Kapitel 1: Die Elfe unter der Eisenbahn - Teil 1

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 8:11pm.
Joshua Winter, 52 Jahre alt, Nachtwächter des British Rail Museums in einem Vorort von Washington DC. Vor wenigen Minuten hatte das Museum seine Tore für die Besucher geschlossen und die Schicht des etwas dicklichen Mannes mit Glatze begann. Mister Winter war bis vor kurzen aufgrund eines Bandscheibenvorfalls krankgeschrieben, während seiner Abwesenheit sprang ein Praktikant für ihn ein. Joshua hoffte, dass es heute nicht allzu turbulent werden würde (es kam bereits einige Male vor, dass Obdachlose sich eingeschlichen und das alte Gebäude als Unterkunft für die Nacht genutzt hatten). Er freute sich bereits auf seinen Feierabend, der jedoch frühestens in sieben Stunden eintreten würde. Vielleicht könnte er aber auch einfach früher heimgehen. Mit etwas Glück hatte sich keine Gruppe Obdachloser hier einschließen lassen und dann könnte er schon kurz vor Mitternacht gemütlich auf der Couch liegen und den Rest des Footballspiels sehen. In Gedanken bei einem kühlen Bier begann er seine übliche Runde im Foyer. Bis auf ein wenig herumliegenden Müll ("Sind die Besucher denn alle zu dämlich die Mülleimer zu treffen?!", fragte er sich selbst) erregte nichts seine Aufmerksamkeit. Auch die Abteilung für die Geschichte der britischen Güterzüge im 19. Jahrhundert schien ruhig. Kurz bevor er seine Sachen aus dem Büro holen und verschwinden wollte, hörte er allerdings ein leises, kaum wahrnehmbares Kichern aus Richtung der Eisenbahnhalle. Mit Taschenlampe und Schlagstock bewaffnet – vorsichtshalber – öffnete er langsam die große, knarrende Holztür. Kein Mucks war mehr zu hören. Also leuchtete er alle Eisenbahnen nacheinander ab und warf auch vorsichtshalber einen Blick unter diese. Gerade als Joshua Winter dieses Lachen als Halluzination abstempeln wollte, sah er aus dem Augenwinkel vier oder fünf mittelgroße Gestalten aus einem der Fenster huschen. Kurz überlegte er, ihnen hinterherzulaufen, aber es hatte doch keinen Sinn. Mit seinem Alter und seiner Krankengeschichte konnte (und wollte) er nicht mit diesen Personen mithalten, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um wagemutige Jugendliche handelte. Genervt schloss er das Fenster, das soeben zur Flucht missbraucht wurde und wollte nun wirklich nachhause gehen, aber unter der ältesten Eisenbahn fiel ihm etwas Glänzendes ins Auge. Eine Kette? Vermutlich hatte einer der Teenager sie hier verloren.
Er griff nach dem Schmuckstück, doch aufheben konnte er es nicht. Es hing irgendwo fest. Nach einem kräftigen Ruck konnte er es letztendlich doch in den Händen halten, aber nicht nur das. Es stellte sich als wirklich hübsches Silberarmband heraus, das aber dummerweise noch an einem knochigen, übelriechenden Arm hing. Zu seinen Füßen erkannte er nun auch, wozu der Arm gehörte. Eine Leiche. Joshua war zu geschockt, um auch nur einen Laut herauszubringen. Er wählte die Nummer der Polizei und ging flach atmend aus der Ausstellung zurück in sein Büro. Sowohl den verfrühten Feierabend als auch sein kühles Bier konnte er vergessen. Und er würde sich wohl am nächsten Tag mit der Wiederholung des Spiels zufrieden geben müssen...  

Eine junge Frau von 24 Jahren wanderte langsam durch die Straßen von Washington DC, augenscheinlich auf der Suche nach etwas oder jemandem. Sie zog einen dunkelgrauen Koffer hinter sich her und blickte etwas besorgt auf das Straßenschild vor ihr. In dieser Straße sollte es sein. Irgendwo hier sollte das kleine Diner sein, in dem sie sich mit einer alten Bekannten treffen wollte. Ja, theoretisch sollte es so sein. Praktisch war sie allerdings komplett verloren und am Verzweifeln.
„Entschuldigen Sie, Sir, wissen sie, wo ich das Royal Diner finde?", fragte sie leise einen Passanten, einen älteren Herren um die 60 Jahre. Dieser musterte sie kurz abfällig, gab ein kurzes „Rechts um die Ecke" von sich und drehte sich weg. Sie bedankte sich schnell, obwohl der Mann es wohl nicht mehr hörte, und setzte ihren Weg fort.
Dann erblickte sie ihren Zielort und schlug sich gedanklich mit der Hand vor den Kopf. Hier war sie schon zweimal vorbeigelaufen! Da war man einmal nicht aufmerksam und dann passierte so etwas! Sie fuhr sich seufzend durch die Haare und betrat dann das kleine Restaurant. Es war niedlich eingerichtet und der wundervolle Geruch frischgebratener Burger stieg ihr in die Nase. Sofort merkte sie, was für einen enormen Hunger sie eigentlich hatte. Die Erdnüsse vom Flug hielten eben nicht lange an. Sie ließ ihren Blick über die Menschen schweifen, die sich hier versammelt hatten. Es war leider ziemlich voll, da die Leute in der Gegend gerade Mittagspause hatten, dennoch entdeckte sie die von ihr gesuchte Person überraschend schnell. Diese saß am anderen Ende des Diners allein an einem Tisch für vier Personen und sippte an einer Tasse Kaffee.   

At Death's DoorWhere stories live. Discover now