Unberechenbarkeit

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Die Frau dachte, dass sie sich sehr gut kannte. Sie vertraute ihren Erfahrungen. Sie mochte es wie perfekt sie doch ihre Emotionen überspielen konnte, sodass keiner verstand, was wirklich in ihr vorging. Doch an diesem Tag wurde sie von ihrer Unberechenbarkeit verraten.

Die große Liebe ihrer Lieblingssongs traf sie nie; von dem einen oder anderen Mann ließ sie sich trotzdem mitreißen. Trotzallem war sie sich aber sicher, dass sie nicht die Einzige war, die in der Bar saß und ihre Zeit als Teenager zum Desaster gemacht hatte, nur um Bezug zu ihren Lieblingsbands zu finden. Selbst nach all den unerbittlichen Lebensjahren, die sie nun hinter sich gebracht hatte, fühlte sich die Bewunderung nicht halb so reell an wie in der Vergangenheit. Loyalität, Naivität oder schierer Gruppenzwang. Man nenne es wie man wolle.                  

Doch nun saß sie hier, gegenüber ihr Freund, der eigentlich nur die Fortsetzung eines längst vergessenen One-Night-Stands war. Im Grunde genommen gab es nach solchen Situationen nur zwei mögliche Entwicklungsgänge: Entweder man ignoriert sich –die klassische Patentlösung – oder man ist faszinierend genug, um gemeinsam die übrig gebliebene Zigarette am nächsten Morgen zu teilen. Der Rest ergibt sich immer, irgendwie, und das erste Mal würde es ohnehin nie mehr sein. Diese Art von Beziehung kann sogar über reine Lust rauswachsen, sobald sich die Interessen überkreuzen. Dann landet man in einer Bar, in der einer unbedeutenden Band letztendlich eine Bedeutung zugeschrieben wird.

Es waren bis dahin nur ein paar Monate gewesen, doch er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ihr das gefallen würde. So sehr, dass sie nicht mal bemerken würde, wenn er aufstand, um Wasser zu lassen. Aber auch sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sein männlicher Stolz ihn daran hindern würde zuzugeben, dass die Band eindeutig gute Musik spielte, also schenkte sie ihm auch nicht viel Beachtung. Vermutlich hätte auch Nirvana auftreten müssen, um jegliches Bekenntnis aus seinem Mund zu hören.

Vielleicht war ihm auch einfach nur die Melancholie der Lyrik überdrüssig.

Wen interessiert's? Sie auf jeden Fall nicht, denn wenn sie nicht in seiner Begleitung dort gewesen wäre, hätte sie ihre weiblichen Reize ausgenutzt, um sich an einen der Bandmitglieder zu vergreifen. Wahrscheinlich hätte es den Leadsänger getroffen. Seine dunklen Haare und die tätowierten Arme waren alles, was sie vor zehn Jahren gerne geheiratet hätte. Genau; geheiratet hätte. Das verstand man wohl unter jugendlicher Naivität. Jetzt, wo sie ihre alten Träume wieder einholten, ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf, denn sie würden sowieso nicht entfaltet in ihr weiterleben. Was sprach also dagegen, sich vorzustellen, wie eine Romanze mit dem Sänger ausgehen könnte?

Sie würde ihn auf seiner Tour begleiten, nach knapp vier Monaten erfahren, dass sie schwanger war und er würde ein gutes Jahr warten bevor er ihr einen Heiratsantrag machte. Natürlich würden die Scheidungspapiere nach 5 Jahren eingereicht werden, doch sie würde den Antrag trotzdem annehmen, damit sie irgendwann die Nerven wegen seiner nie endenden Touren verlor und er genug Zeit hatte, um sie unzählige Male mit seinen anhänglichen Fans zu betrügen. An diesem Punkt könnte sie auch nichts mehr davon abhalten, dasselbe zu tun. Andrerseits bereitete dies die perfekte Vorlage für die Musikkarriere ihres Sohnes vor, der dadurch möglicherweise sogar noch sentimentalere Songtexte als sein Vater schreiben könnte. Ein immerwährender Teufelskreis. Und außerdem eine komplett neue Interpretation des Zitates „Zeig mir einen Helden und ich schreibe dir eine Tragödie."

Als sie jedoch aus ihrem Tagtraum erwachte, hätte sie alleine die perfekte Tragödie hervorrufen können. Ihr durch die Musik angeschlagenes Herz erlebte eine leichte Schocktherapie als ihr Blick durch die Bar schweifte und an ihrem Freund haften blieb. Ihr Freund, der nicht alleine war. Und eigentlich nichts anstellte, was sie so sehr durcheinander bringen könnte.

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