Mein Pullover

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Mein Pullover war schon immer das Wichtigste für mich. Ich weiß nicht mehr, wann ich ihn mir geholt habe, aber seitdem habe ich ihn nicht wieder losgelassen.
Und es störte niemanden. Es interessierte niemanden, dass ich diesen Pullover trug. Ich denke, dass viele ihn einfach nicht wahrnahmen.
Aber umso besser für mich.
Dann konnte niemand ihn mir wegnehmen.
Mein Pullover hielt mich warm wenn ich am Erfrieren war. Er spendete mir Trost wenn ich weinend auf meinem Bett saß. Er schützte mich vor allen Gefahren. Wie mein bester Freund.
Mein Leben war in bester Ordnung, wenn ich den Pullover trug. Dass meine Ordnung von dem Pullover abhängig war, war mir nicht bewusst und selbst wenn, wäre es mir wahrscheinlich egal gewesen.
Niemanden interessierte der Pullover, und mir half er nur, wieso sollte ich ihn dann hinterfragen?

Doch dann kamst du.
Ich sah an deinem Blick, dass du mich anders ansahst als die Anderen. Du blicktest tiefer als die Anderen.
Das machte mir schreckliche Angst. Was, wenn du den Pullover sehen konntest?
Was, wenn du ihn mir wegnehmen würdest?
Ich war nervös in deiner Nähe, und sprach seltenst direkt über mich selbst. Doch ich wusste tief in mir, dass du es trotzdem irgendwann bemerken würdest.
Es war nur eine Frage der Zeit bis du den Pullover entdecken würdest. Ich wusste es genau, und hatte Angst davor.
Angst, dass du mich wegstoßen würdest.
Angst, dass du ihn ignorieren würdest.
Und Angst, dass ich die Kontrolle verlor, sobald jemand hinter die Fassade blickte.
Doch zugleich wollte ich es auch. Eine kleine Stimme in mir hoffte darauf, dass endlich jemand tiefer blickte. Dass jemand sich dafür interessierte.
Es war kaum auszuhalten, aber dann kam der Moment.

Du sahst mich an und ich war mir im Klaren darüber, dass es jetzt geschehen würde.
Meine Maske würde fallen.
Meinen Pullover, den ich schon so lange trug, würde ich verlieren.
Zunächst versuchte ich es noch abzuwenden, aber die anfangs kleine Stimme war inzwischen zu einem Meer an Stimmen geworden, die mich zur Offenheit drängten.
Eigentlich wollte ich es nicht.
Es war gut so wie es war, oder nicht?
Mir war warm und die meisten schien es nicht zu stören.
Doch dich störte es.
Und nach einigem Zögern schub ich meine Ärmel hoch.
Die Wunden waren über meine gesamten Arme verteilt.
Kleine Schnitte, aber auch größere Wunden waren plötzlich offen sichtbar.
Ich war geschockt, da ich mir nicht bewusst gewesen war, wie tief die Wunden tatsächlich waren. Zwar wusste ich, dass sie da waren, doch dass es so schlimm um mich stand, überwältigte mich kurzzeitig.
Und obwohl nur dieser Anblick schon genügte um mich aus der Fassung zu bringen, fragtest du weiter.
Du brachtest mich dazu, den Pullover abzulegen.
Überall auf meiner Haut waren Schnitte, Einkerbungen und Aufschürfungen. Zwar war ich mir dieser bewusst, doch das Ausmaß war bei weitem größer als ich es je für möglich gehalten hatte.
Mir wurde kalt und du betrachtetest die Wunden.
Ich hatte Angst.
Würdest du mich wegstoßen?
Oder, was für mich fast noch schlimmer wäre: Würdest du sie ignorieren?
Auch wenn mir der Pullover sehr lange geholfen hatte, konnte ich ihn jetzt nicht mehr einfach so anziehen.
Nicht, nachdem ich mich so offenbart hatte. Nachdem ich selbst meine Wunden gesehen hatte.
Und als ich noch dabei war, diesen Anblick meines verwundeten Selbsts zu verarbeiten, warst du da und blicktest mir tief in dir Augen.
Ich war verunsichert.
Ich war enttäuscht von mir selbst.
Dass ich jemanden anderes hinter meine Fassade hatte blicken lassen.
Und mir war kalt.
Doch langsam kehrte ein neues Gefühl in meinen Körper ein. Zuerst schleichend, dann immer stärker verspürte ich die unglaubliche Wärme, die von dir ausging.
Du betrachtetest meine Wunden und langsam nahmst du dir vor, sie zu verarzten. Eine nach der anderen verkleinerte sich nach einer gewissen Zeit, manche verschwanden ganz, manche blieben für immer.
Doch du kümmerst dich um sie, egal welche Art von Wunde es ist.
Und selbst heute noch, wenn ich vor anderen den Pullover anziehe, weiß ich, dass du das wahre Ich kennst.
Mit allen Sorgen und Problemen.
Du hilfst mir.
Du hast es geschafft, dass ich weiß, dass ich zwar nicht alleine mit meinen Wunden klarkommen kann, aber dass ich weiß, dass du für mich da bist, falls ich Hilfe brauche.
Manchmal klafft die ein oder andere Wunde wieder auf, doch du kümmerst dich sorgfältig um sie.
Wenn etwas passiert, bemerkst du es sofort und bist für mich da.

Und diese Hilfe zuzulassen ist gar nicht mal so schlecht. Es hat mich einiges an Überwindung gekostet, den Pullover abzulegen, aber jetzt geht es mir gut.
Ab und zu kämpfe ich noch mit mir, doch das ist normal.

Und wer weiß, vielleicht schaffe ich es irgendwann, auch vor den anderen meinen Pullover abzulegen.

Aber bis dahin bleibt es unser Geheimnis.

Mein PulloverWhere stories live. Discover now