72.

Ich war sauer. Wieder einmal. Dieses Mal wird er sich nicht rausreden können. Ich fragte ihn, wie es zwischen uns stehe und bekam keine Antwort. Die modernste Technik erleichtert es dem Menschen seinen Ängsten und Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, indem man sich ihnen nicht stellt. Nicht zu antworten geht nur, da keine direkte Konfrontation besteht. Und wie immer erhielt ich durch fast magische Hand erst eine Nachricht bevor meine mentale Deadline fast abgelaufen war. Jedoch bestand diese Nachricht nicht aus einer schriftlichen Erklärung, sondern aus einer Audiodatei. Meine erste Intuition war, dass er die Sprachmemo von einem anderen an mich weitergeleitet hat. Völlig unlogisch in diesem Zusammenhang, jedoch die einzige Erklärung für eine Audiodatei im Zeitalter der Sprachmemos. Natürlich hatte ich mir vorgenommen ihn schmoren zu lassen, sobald er antworten sollte. Natürlich konnte ich meinen Vorsatz nicht einhalten. Ich öffnete unseren Chat und sah, dass er noch immer online war. Musik fing an. Ganz leise. Ich erkannte einige Melodien wieder. Aber sobald ich die Melodie identifiziert hatte, löste sich das Konstrukt auf und ein anderer Rhythmus dominierte die Bässe im Hintergrund. Es hörte sich an wie ein Code aus schon bestehenden Liedern. Der Teil, in dem sich die Musik aufbaute und anschwill, war nicht lang aber hörte sich für mich endlos an. Ich erkannte mehrere Lieder, die mich an bestimmte Situationen mit ihm erinnerten. Es war als würde man ein musikalisches Tagebuch in meinem Kopf abspielen. Und dann waren die Lieder auch in chronologischer Reihenfolge, in der sie mir in Verbindung mit ihm aufgefallen waren. Dann fing er an zu singen. Seine Stimme hatte die gleiche Tonlage, die sie auch bei meinem Lieblingslied von ihm annahm. ,I would wish to treat you well', waren die ersten Zeilen und ich musste grinsen. Wieder eine Referenz zu einem existierenden Lied. Ich hatte das Gefühl noch nie ein so schönes Lied gehört zu haben. Nichts daran war mehr simpel und nachgemacht. Ich verstand das Lied. Jeden Akkord, der aus anderen Liedern zusammengesetzt war und die Klavierkombination im Hintergrund, die sich in immer mehr vordrängte und neu war. Die einzige Melodie, die ich nicht erkannte und die definitiv neu komponiert war. Und obwohl mein ungeschultes Gehör alle diese Feinheiten erkannte, war ich gleichzeitig gebannt von dem Text. ,I want to give you everything. Everything you want and everything i got. But you chose the wrong one.' Ich hatte nie zuvor so viele verschiedene Emotionen in mir. Während die Melodien unglaubliche Glücksgefühle auslösten, staute sich bei dem Text eine deprimierende Frustration in meinem Inneren an. Ich wollte gleichzeitig schreien, lachen und weinen. Er sagte nein. Und gleichzeitig zeigte er mir alle die Gefühle, die ich empfand. Die er also auch empfinden musste? Konnte man ein solches Lied komponieren, ohne meine Emotionen genauso zu empfinden? Seine Stimme brach während er sang. Das hatte ich mir nicht eingebildet. Kurz darauf verstummte sie ganz. Das harmonische und emotionale Chaos an Harmonien hatte aufgehört und die letzten Töne wurden ganz von der eigenen, individuellen Melodie bestimmt. Es fühlte sich an als wäre sie die Basis meines Lieblingsliedes, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte. Als die Audiodatei verstummte, blieb diese Melodie in meinem Kopf. Nicht der Text, der mich daran erinnerte, dass ich meine Antwort bekommen hatte sondern die Melodie, die sich anfühlte als würde er mich im Arm halten. Als würden wir im Auto sitzen und die Lichter der Stadt anschauen während wir uns über alles Mögliche unterhielten. Er war immer noch online. Ich legte mein Handy beiseite und starrte die Wand an. Ich musste antworten. Aber ich wollte mich nicht mit der Situation auseinandersetzen. Dieses Lied war nicht nur für mich geschrieben worden. Es war durch mich gefühlt und erfunden worden. Und genau das hat er mir gezeigt.