Fünfzehn

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Als ich zwölf war, war mein Leben noch das einer normalen Gymnasiastin. Ich hatte meine besten Freunde, mit denen ich viel Zeit verbrachte, meine Lieblingsfarbe war rosa und ich hatte lange blonde Haare. Mein Zimmer hatte weiße Wände und das Zentrum bildete ein großes Bett mit ganz vielen Weichen Kissen. Ich war ein glückliches Einzelkind und bekam von meinen Eltern alles was ich wollte. Ich dachte, nichts könnte diese Idylle, in der ich lebte, zerstören, doch dann hatte meine Tante, die Schwester meiner Mutter ein Jahr später einen Autounfall. Sie und ihr Mann starben und da meine Mutter die einzige verwandte war, übernahm sie die Firma.

Sie arbeitete immer mehr und auch mein Vater hatte immer weniger Zeit. Meine Mutter war dauergestresst und wir stritten immer öfter, da sie sich nicht mehr für mich interessierte. Ich begann aus Provokation immer knappere Sachen zu tragen und auch meine Ausschnitte wurden immer tiefer, jedoch ging das komplett an meinen Eltern vorbei.

Meinen vierzehnten Geburtstag, hatte ich allein verbracht, da meine Eltern auf der Arbeit waren und ich hatte nicht mal ein Geschenk oder eine Karte bekommen. Meinen Geburtstagskuchen hatte ich selbst gebacken und aß ihn auch allein.

Jetzt war alles anders. Ich war fünfzehn und mein Leben stand Kopf. Ich trug gerne kurze Röcke, einen langen Schal und meine Tennisschuhe, auf denen alle meine damaligen Freunde unterschrieben hatten. Sie hatten sich alle von mir abgewendet und ich war von einem der beliebtesten Mädchen aus meiner Klasse zu dem unsichtbaren Mobbingopfer geworden. Meine Eltern bekamen davon nichts mit und das war auch gut so.

Mein Leben hatte angefangen kompliziert zu werden, als ich vor zwei Monaten mit einem neuen Rock in die Schule kam. Ich gebe zu er war noch ein bisschen kürzer, als es für mich sowieso schon üblich war, aber ich mochte ihn sehr. Es war ein schwarzer Skaterrock, mit einer silbernen Kette an der Seite. Dazu trug ich meine Üblichen Tennisschuhe und ein hochgeknotetes einfaches weißes T-Shirt. Ich war dezent geschminkt und hatte eine Art Halsband an. Bereits in dem Moment als ich das Haus verließ, merkte ich das an diesem Tag etwas anders war. Dass sich etwas in meinem Leben gewaltig ändern würde, doch wie gewaltig es war, konnte ich zu diesem Moment bei weitem nicht erahnen.

An der Bushaltestelle war noch alles normal. Ich nahm die üblichen Blicke auf mir war, aber daran war ich gewöhnt. Ich steckte mir einfach meine Kopfhörer in die Ohren und machte die Musik lauter. Als der Bus dann endlich kam, schulterte ich meine braune Lederumhängetasche und lief auf meinen Standartplatz. Ganz hinten in dem Bus, sodass niemand hinter mir sitzen konnte. Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe und blendete alles um mich herum aus. Die lauten Kinder, das ältere Ehepaar vor mir, dass sich vielleicht mal ein Hörgerät zulegen sollte und die sich cool fühlenden Jungs mit ihrem auf laut gestellten Gangsta-Rap.

Als der Bus vor der Schule hielt und ich ausstieg, wurde das flaue Gefühl in meinem Magen, welches ich bereits beim Verlassen des Hauses in der Früh gespürt hatte, stärker. Ich beeilte mich, in das Klassenzimmer zu kommen und setzte mich dort an den zweier Tisch, den ich für mich allein hatte, in die letzte Reihe.

Die ersten beiden Stunden verliefen gut und ohne weitere Vorfälle, doch dann läutete es zur Pause. Ich ging raus aus dem Klassenzimmer, auf den Schulhof und lehnte mich in einer Ruhigen Ecke an die Mauer. Ich genoss gerade die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, als ich eine Stimme meinen Namen rufen hörte. Ich öffnete die Augen, die ich vorhin auf Grund der Sonne und blickte in das, zugegebenermaßen hübsche, Gesicht von Oliver. Er war einen Jahrgang über mir und ich hatte mich bereits in der sechsten Klasse in ihn verknallt, mich jedoch nie getraut ihn anzusprechen. Ich schaute ihm direkt in die Eisblauen Augen und lächelte ihn an.

Ich wollte ihn gerade fragen, was er wollte, als ich seine Hand auf meinem Oberschenkel spürte. Es war eine sehr unangenehme Situation für mich und ich versuchte verzweifelt seine Hand wegzudrücken, die langsam unter meinen Rock fuhr, doch ohne Erfolg. Seine Freunde hinter ihm lachten mich aus, als er sich vorbeugte und mir ins Ohr flüsterte: „Wer rumläuft wie eine Hure, soll sich nicht wundern, wenn er wie eine behandelt wird."

Ich war geschockt. Das war das erste Mal, dass mich jemand Hure nannte und es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Mein einziger Gedanke war, dass ich hier wegmusste. Ich schnappte mir meine Tasche, trat ihm gegen das Schienbein und rannte los. Die Tränen flossen mir über die Wangen und ich lief den kompletten weg heim. Ich schwänzte die letzten vier Stunden einfach, weil ich es nicht mehr ausgehalten hätte.Es war so erniedrigend gewesen und ich redete mir die ganze Zeit ein, dass es wieder aufhören würde, doch ich hätte es besser wissen müssen. In den darauffolgenden Tagen wurde es immer schlimmer und ich weinte so gut wie täglich. Es war so eine Wucht von Emotionen, Gefühle, mit denen ich einfach nicht klarkam.

Damit meine Eltern nicht mitbekamen, dass ich weinte, hörte ich laut Musik. Manchmal schrie ich auch so laut wie ich konnte, um das alles aus mir herauszulassen und manchmal, half das nicht mehr. Manchmal musste ich zu einer drastischeren Methode greifen und die Gefühle Wortwörtlich aus mir herauslaufen lassen. In diesen Momenten bewege ich mich wie ferngesteuert auf mein Nachtkästchen zu, ziehe die Schublade auf und hole ein kleines Kästchen von ganz hinten heraus.

Damit setzte ich mich meistens auf den Boden und stelle es vor mir ab. Dann öffne ich den Deckel und nehme die Silber glänzende, mit rostroten Tropfen befleckte Klinge heraus. Ich nehme sie in die Hand und bewege diese dann in Richtung meines Armes. Dort lasse ich sie durch die dünne Haut gleiten. Anfangs hatte ich immer die Augen geschlossen, weil ich angst vor dem hatte, was ich sehen würde, doch jetzt finde ich es nur noch faszinierend. Ich finde es faszinierend, wie sich das dunkelrote Blut einen Weg aus den schmalen Schnitten heraus und meinen Arm herunter bahnt. Wie es in meiner Handfläche einen See bildet und irgendwann die ersten Tropfen, zwischen meinen Fingern hindurch, auf den braunen Boden tropfen.

Auf den Boden meines komplett verstaubten und unaufgeräumten Zimmers. Das Ganze Mobbing machte mich so fertig, dass ich nicht mehr genug Energie hatte, um mein Zimmer aufzuräumen oder mal Staub zu wischen. Mein Zimmer war mein Zufluchtsort, an dem nur ich war. Ich und meine Bücher, in die ich mich flüchten konnte, wenn mir alles zu viel wurde. Ich liebte Bücher einfach. Sie waren meine Rettungsleine, um mich aus dem Loch zu holen, in das mich das Mobbing meiner Mitschüler getrieben hatte. Das Loch, bestehend aus meiner Depression, aus der ich nicht mehr herauskam.

Als ich vor ein paar Tagen nachhause kam, war ich geschockt. Mein Vater stand mitten in meinem Zimmer und schien auf mich zu warten. Langsam und unsicher betrat ich mein Zimmer und sah ihn auffordernd an. Er schaute mich mit der gleichen Miene an, bis er ernst sagte: „Du Thea, ich habe in deinem Zimmer Staub gewischt und habe dabei etwas gefunden." Ich war wie erstarrt, das komplette Blut schien sich aus meinem Körper zurückzuziehen. Ich merkte wie meine Hände anfingen feucht zu werden und anfingen zu zittern. Hatte er meinen Nachttisch aufgemacht? Hatte er die Klinge oder einen der Blutigen Verbände gefunden? Er würde eine Erklärung verlangen, die ich ihm nicht geben könnte.

Mit zittriger Stimme fragte ich, was er denn gefunden habe und er antwortete, ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern, dass dort Spinnen unter meinem Bett seien. Erleichtert atmete ich auf. Er hatte nichts von den Sachen in meinem Nachttisch gefunden... aber Moment, hatte er gerade Spinnen gesagt? Ich stieß einen spitzen Schrei aus und sprang schnell auf das Bett.

Ich hatte schon immer eine panische Angst vor Spinnen gehabt, doch seit Oliver letzte Woche eine riesige Spinne mit in die Schule gebracht hatte, die er ganz zufällig auf meinen Tisch gesetzt hatte, hat sich diese Angst in eine regelrechte Arachnophobie verwandelt.

Ich wollte wissen, warum die Spinnen ausgerechnet unter meinem Bett waren und mein Vater antwortete nur richtig dämlich, dass sie dort nicht gestört werden würden. Dann verließ er den Raum und ich nahm meinen Laptop und begann mit meinen Hausaufgaben. Wie ich die Schule doch hasste. Naja, eigentlich war sie ja gar nicht so schlimm, aber die Menschen dort, machten mich echt fertig.

Ich hielt das hier nicht mehr aus. Warum durfte ich nicht auch glücklich sein? Warum mussten sie mein Leben so beeinträchtigen, ich hatte ihnen doch nichts getan.

Manchmal wünsche ich mir ich wäre damals mit in dem Auto meiner Tante gesessen......

All diese Gedanken...und noch ein Schnitt, ein tropfen Blut, einer, aber einer zu viel. Es wird dunkel, das Loch, in dem ich bin, hat keinen Boden mehr, ich falle. Ich bin mir sicher, ich schreie, aber ich höre nichts.

Nichts, der Ort an dem ich jetzt bin erinnert mich an das Nichts, aber ich werde niemandem je sagen können, wie das Nichts aussieht. Schaut selbst nach, aber lasst euch noch Zeit damit. Es ist noch eine Menge Zeit, die jeder noch auf der Erde hat, doch meine ist abgelaufen.

Fünfzehn (OS)Where stories live. Discover now