9 - Kirmes, Raupen und Zahlen

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Die Haustüre hinter mir fällt zu und ich atme tief durch. Ich entspanne meine zu Fäusten geballten Hände und versuche mich auf das Nachmittagsprogramm, das ich jetzt vor mir habe zu konzentrieren. Einerseits bin ich froh, dass es nicht zu einem wirklichen Streit mit den beiden gekommen ist, andererseits lasten die ungesagten Worte wie so oft auf meinen Schultern. Ich versuche das Ganze irgendwie wegzuschließen und mich auf Annas strahlende Augen zu freuen. Naja. Erstmal muss ich ihr erklären, dass Theo zu verprügelt ist, um irgendwo hinzugehen. Am besten nicht mit diesen Worten.

Ich überquere die Straße und klingele bei unserem Mehrfamilienhaus, damit Anna herunterkommt. Bereits in der kurzen Zeit, die ich vor der Haustüre auf sie warte, bin ich so geschwitzt, dass ich meine Jeansjacke ausziehen muss. Der Nachmittag kam heute zwar mit einer leichten Brise, die einem das Leben ein wenig erleichtert, aber es ist trotzdem immer noch bullenwarm und die Sonne knallt ordentlich. Der kleine Wirbelwind stürmt aufgeregt durch die Tür und sieht mich dann mit enttäuschten Augen unter ihrem kleinen Sonnenhut an, als sie bemerkt, dass Theo nicht mit dabei ist.

Entschuldigend sehe ich sie an und erkläre, dass Theo leider nicht kann, weil er gerade schon Besuch hat. "Von seinem Bruder?", fragt Anna mit noch größeren Augen, denn Ed ist (zu ziemlich guten Grund, wenn man ihn mal aus den Augen eines kleinen Mädchens sieht) schon seit einiger Zeit Material ihrer Albträume. Oder zumindest hat sie größten Respekt vor ihm, selbst wenn ich ihr schon oft erklärt habe, dass sie keine Angst vor ihm haben muss, weil er unser 'Freund' sei.

Ich schüttele den Kopf und sage: "Besuch von einer Freundin." Sehr bewusst erzähle ich nichts von Leni, denn sonst würde sie nur verlangen, dass beide mitkommen. Neben Theo hat sie nämlich auch an Lena einen unglaublichen Narren gefressen. Enttäuscht guckt Anna nach unten auf den Boden, dann greift sie nach meiner Hand und sagt: "Nicht so schlimm! Ich hab ja dich!" Sie zieht mich ungeduldig in Richtung S-Bahn Haltestelle, denn sie weiß schon, dass wir ein paar Haltestellen mit der Bahn zur Kirmes fahren müssen.

Auf der Fahrt sitzt sie hibbelig auf der Stuhlkante neben mir und sieht aus dem Fenster. Immer wieder macht sie mich auf Leute oder Häuser oder Werbeschilder aufmerksam und wenn gerade nichts Spannendes am Fenster vorbeizieht, dann erzählt mir die kleine Quasselstrippe von dem kandierten Apfel und der Zuckerwatte, die sie essen möchte. Und vom Entchen Angeln und den Lichtern und vom Karussell und vom Autoscooter. Vor ein paar Wochen waren Nicole und Sarah mit ihr auf der Kirmes, als diese eröffnet wurde, es ist also kein völlig neues Erlebnis für Anna, aber aufgeregt ist sie trotzdem.

An der richtigen Haltestelle ausgestiegen sind es nur noch ein paar Meter bis zur Kirmes und Anna läuft an meiner Hand im Hopseschritt und überlegt laut, wo sie zuerst hingehen möchte. Die Lichter und der Lärm, die schreienden Kinder und die laute Musik schallen uns schon von Weitem entgegen und mir wird schnell klar, dass wirklich viel los ist. So voll ist diese eher kleinere lokale Kirmes eher selten, aber kein Wunder an einem Sonntagnachmittag bei strahlendem Sonnenschein.

Anna zieht mich strahlend von einer Bude zur nächsten, Entchen Angeln, die Wilde Maus, Süßigkeiten. Bereits nach einer knappen Stunde bin ich ziemlich erschöpft und unsere Bäuche sind vollgestopft mit Süßkram. Das Kirmesgeld, das Nicole und Sarah uns mitgegeben haben, ist fast aufgebraucht, da zeigt Anna begeistert auf ein Kind, dass uns entgegenkommt.

"Wow! Ein Tiger!", spricht sie in heller Freude von dem bemalten Gesicht des Jungen und sieht mich dann bettelnd an, "ich will auch, Basti! Bitteeeee!"

"Zuerst einmal heißt das ich möchte und nicht ich will", belehre ich sie, nicke dann aber und sage, dass wir dazu nur den Stand der Künstlerin finden müssen. Das hat sich schnell erledigt und im Nu stehen wir in einer langen Schlange aus ungeduldigen Kindern. "Das dauert ja ewiiig!", quengelt Anna und ich schenke ihr ein gutmütiges Lächeln. "Na du musst dir ja auch erstmal gut überlegen, was du überhaupt ins Gesicht gemalt haben möchtest."

Wasting My Young YearsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt