Kapitel 1- Flucht ist die beste Verteidigung

173 10 65
                                    

Als meine Eltern mir meinen Namen gegeben haben, mussten sie wohl gehofft haben, ich würde von der Persönlichkeit her nach seiner Bedeutung kommen. Nun, da muss ich sie, wie schon so oft, enttäuschen.
Denn ich war alles, aber keine Kämpferin. Was auch meine jetzige Entscheidung verdeutlichte.
Anstatt mich meinen Problemen zu stellen tat ich was? Genau: Flüchten.
Aber hauen wir Menschen nicht normalerweise ab, wenn es brenzlig wird? In der Steinzeit sind wir dem Säbelzahntiger bestimmt auch nicht einfach so hinterhergejagt, bis wir zerfleischt worden sind. Und ich bin sowieso keine Gryffindor.

Während ich mir meinen Platz im Flugzeug suche, mache ich mir nochmal bewusst, dass es ab hier kein Zurück mehr gibt. Ich kann nicht nochmal zurückspulen, um die besonders herzzereißende Szene in einer Liebes-Schnulze zu sehen. Und darüber nochmals lachen, weil mein Sinn für Humor gestört ist, obwohl meine Schwester sich gerade die Augen ausheult und kiloweise Schokoladeneis verspeist, weil sie sich gerade von ihrem ersten Freund getrennt hat.
Meine Reaktion auf diese Neuigkeit war ein 10 minütiger Lachanfall gewesen. Und anschließend haute mir meine Mutter eine runter. Was soll ich sagen: 1. War ich das gewohnt. 2.war einfühlsamkeit noch nie meine Stärke. Aber selbst wenn ich anders reagiert hätte, es wäre in den Augen meiner Eltern eh falsch gewesen. Also wieso nicht die Chance nutzen und einen richtig dummen Kommentar abgeben?

Ich habe meinen Platz also endlich gefunden, mein Handgepäck verstaut und meine Kopfhörer in meine Ohren gesteckt. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gleich losgeht.

Seit langem empfinde ich mal etwas anderes als Wut, Hass, Schmerz, Eifersucht und Genervtheit: ein angenehmes Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus: Aufregung.
Aber das ist ja auch kein Wunder.

Schließlich flüchte ich gerade nach Südkorea. Alleine. Ohne dass irgendjemand was davon weiß. Und diese "Flucht" plane ich seit 1118 Tagen. Das sind 159 Wochen und 5 Tage. 36 Monate und 23 Tage. 3 Jahre und 23 Tage.

Ich habe stundenlang koreanisch gelernt, mich nach einer Wohnung umgesehen, einen Job gesucht, ein Flugticket gebucht und mir mehr Wissen angeeignet, als in meinen ganzen Geografiestunden. Dafür hat ab und zu auch der Physik Unterricht hergehalten. Aber ich hätte so oder so nicht aufgepasst, warum die Zeit dann nicht sinnvoll nutzen?

Das Flugzeug rollt los und hebt ab. Immer höher steigt es und mir wird die Endgültigkeit meiner Entscheidung bewusst.
Während Musik in meinen Ohren dudelt, ich meinen Kopf im Takt von someone you loved von Lewis Capaldi bewege, lasse ich nochmal alles Revue passieren.

Seit Jahren hatte ich Aushilfsjobs angenommen, hatte Babys gesittet und Nachhilfe gegeben, obwohl ich Kinder hasste, weil sie mich nerven, hatte gekellnert, in Kinos und Cafés gearbeitet, geputzt, war für andere einkaufen und hab mir wortwörtlich den Arsch aufgerissen.

Und heute, an meinem 20. Geburtstag, sitze ich im Flugzeug und lasse mein altes Leben hinter mir. Nicht, dass ich es vermissen würde. Ich habe keine Freunde, bin für meine Familie eine Versagerin, ein Looser und gelte schlichtweg als Problemkind. Denn entweder bin ich sarkastisch und fies, oder man kann mich mit einem Eisblock vergleichen. Aber was kann ich denn dafür, wenn es mir einfach nicht leid tut, dass Großtante Trude stirbt, die immer ihre Hunde auf mich gehetzt hat. Und der Vorschlag, den Blumenstrauß in die Menge zu werfen um zu sehen wer als nächster dran ist, ist doch quasi wie eine Prophezeiung.

10 Stunden Flugzeit, 10 Stunden, in denen ich mal wieder in meiner Gedankenwelt versinken kann, was heißt das ich entweder depressiv werde oder über jeden dummen Kommentar nachdenke, den ich je von mir gegeben habe. Mal wieder frag ich mich einfach nur, warum ich so bin wie ich bin. Überflüssig, ungewollt, nervig, abartig. Happy birthday to me, happy birthday to me.

Immerhin würde ich nun aus ihrem Leben verschwinden. Die einzige Naricht, die ich auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, bevor ich ein für alle mal verschwand, war ein karierter Zettel, auf dessen Rückseite Physik Formeln standen. Oder vielleicht war es auch die Vorderseite. Ist mir eigentlich scheißegal.

Hallo,
Eventuell wundert es euch ja, wo ich bin, wenn nicht ist es auch egal. Aber ich wollte euch nur darüber informieren, dass ich aus Deutschland abgehauen bin. Und nein, es ist nicht wie in der 7. Klasse, als ich es nur behauptet hab und mich am Ende im Schuppen nebenan verstecke. Aber wohin, braucht euch nicht kümmern. Ich werde keine Anforderungen wegen Geld oder sonst was stellen, keine Sorge. Und ich habe nicht vor zurückzukommen, also macht aus meinem Zimmer das zweite Bad für Luciella, dass sie sich schon so lange wünscht. Ist ja nicht so, dass ihr das schon ewig plant.
Wie auch immer, bye. Schmort in der Hölle. Satan nimmt sich eurer sicherlich gerne an.
PS: das mit Brandon ist spätestens in einer Woche vorbei Luciella. Solltest ihm vielleicht mal folgen, wenn er zum "schwimmen" geht.

Ja, die Abschiedsnaricht war nicht schlecht geworden. Hoffentlich bricht der große, böse Brandon der kleinen armen Luciella nicht ihr Herzchen. Dann müsste sie wieder Schokoeis essen. Und dann würde sie wieder 5 kg zunehmen. Woraufhin sie erstmal noch mehr Eis essen würde, um anschließend zu heulen und eine neue Diät anzufangen. Aber wenigstens würde sie mein Zimmer bekommen. Obwohl es eher wie Harry Potters Schrank war.

Irgendwann fallen mir die Augen zu und mein Gehirn beschließt, den Betrieb abzuschalten und keine Nachtschicht einzulegen, obwohl es 6 Uhr morgens ist während der glatzköpfige Mann im Sitz neben mir also heimlich Donuts in sich hineinstopft und versucht, seiner Frau, die anscheinend ziemlich schlecht sieht, weiszumachen, es sei ein Low-carb Bagel mit Avocado, hören meine Gedanken auf Tango zu tanzen und ich verschwinde in die Welt des Schlafes. Hoffentlich hat Morpheus Mitleid mit mir.

Be my hope {jhopexreader} Where stories live. Discover now