Kapitel 5 - Jessica

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Kais Worte über den Todesfall bei den Lagerhallen gehen mir nicht aus dem Kopf. Die gesamte Woche mache ich mir, ohne es zu wollen, Gedanken um meine Schwester Selina. Während die Arbeit wie im Flug vergeht und ich keine Zeit habe, um mir zwischen Servieren und Tische abräumen Sorgen um Selina zu machen, ist es in den Pausen und nach der Arbeit umso schlimmer. Auch im Jugendzentrum können mich die Kinder nicht vollends davon ablenken.

Am Freitagabend halte ich es nicht mehr aus und mache mich auf den Weg zu Carlos. Carlos ist gerade mal 30 Jahre alt und Besitzer eines schäbigen Puffs.

Selina arbeitet dort.

Es dämmert schon, als ich mich auf den Weg mache. Ein eisiger Wind bläst mir um die Ohren und ich vergrabe meine Hände in den Jackentaschen. Die Gegend hier ist echt mies, denke ich, als ich einen Drogendealer auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblicke. Er steht zwar nur rum, aber seine Haltung, sowie sein herumirrender Blick verrät ihn.

Als ich die Eingangstür betrete, schlägt mir ein aufdringlich süßer Geruch entgegen. An der Bar nicke ich einer Bedienung zu und an den Stangen räkeln sich zwei leicht bekleidete Frauen.

Ein Typ mit Glatze und vielen Muskeln sieht mich an. Er gehört wohl zum Sicherheitspersonal. Wenn es in diesem Schuppen überhaupt so etwas gibt. „Kann ich dir helfen, Kleine?" Er lehnt sich an den Tresen und verschränkt die muskulösen Armen vor der Brust. „Ist Carlos da? Ich muss mit ihm reden." Ich versuche, von ihm nicht eingeschüchtert zu wirken. Er nickt schräg hinter mich. „Carlos?", ruft er mit lauter Stimme, die mich beinahe zusammenzucken lässt.

Ich drehe mich um und erkenne ihn schon von Weitem. Carlos hat natürliche braune Haut, die seine spanische Abstammung verraten und dunkle Locken. Er trägt eine Jeans, ein ordentliches Hemd und ein goldenes Kettchen um den Hals. Was für ein Klischee.

„Jessica, wie schön, dass du hier bist. Ich muss mit dir reden." Er lächelt mich charmant an, aber mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Er muss mit mir reden? Worüber?

Ich recke mein Kinn in die Höhe. „Ich habe jetzt keine Zeit." Ich hoffe, meine Stimme klingt entschlossen genug. „Ist Selina da?" Carlos geht an mir vorbei und schenkt sich über die Bar gebeugt selbst einen Drink ein. Als er mir einen hinhält, schüttle ich entschieden den Kopf. „Sandy arbeitet nicht mehr für mich, Jessy." Er lässt seinen Blick meinen Körper entlangfahren. Demonstrativ verschränke ich die Arme vor der Brust. „Willst du Sandys Job übernehmen?" Er grinst anzüglich und der Glatzen-Typ schaut auffällig lange auf meine Beine.

Ich versuche ruhig zu bleiben. „Also ist Sandy nicht hier?", will ich mich vergewissern und benutze ebenfalls den Namen, den sich Selina für die Arbeit angeeignet hat.

Sandy hört sich doch viel aufregender an als eine langweilige Selina, meinte sie mal zu mir.

Carlos seufzt laut auf. „Hör zu, die Schlampe hat sich einfach aus den Staub gemacht und da kommst du ins Spiel...." „Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, Carlos", würge ich ihn ab und ich sehe, wie er verärgert darüber ist. „Danke für die Auskunft. Vielleicht können wir ein andermal miteinander reden."

Carlos Blick verfinstert sich, Glatzen-Typ stellt sich in den Gang rechts von mir. Ich balle meine Hand zur Faust. Er hat mir den Weg zum Ausgang abgeschnitten. Langsam, aber sicher wird mir der Ernst und die Bedrohung der Lage bewusst.

Ich appelliere an Carlos Vernunft. „Carlos, ich hatte eine lange Woche hinter mir. Lass mich jetzt gehen, und wir reden später." Ich sehe ihm geradewegs in die Augen. Mein Atem stoppt zwar, als er auf mich zu kommt und nur eine Armeslänge von mir entfernt stehen bleibt, aber ich zucke nicht zurück.

Er hebt seinen Arm und legt seine Hand an meine Wange. Ich traue mich nicht, mich auch nur einen Millimeter zu rühren.

„Nicht viele haben den Mut, sich mir so entgegen zu stellen." In seinem Blick flackert was auf, dass ich nicht deuten kann. „Wir werden uns demnächst unterhalten."

Herbststurm - Zurrenberg RomanceWhere stories live. Discover now