Jazy - Der Abschied

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Meine Familie hatte mich in den letzten zweieinhalb Wochen beschützt und festgehalten, wo sie nur konnte. Ohne meinen Papa, der sich extra Urlaub genommen hatte, um Tag und Nacht bei mir sein zu können, wäre ich in absoluter Verzweiflung versunken. Alle hatten mich für meine innere Stärke bewundert, ohne dass ich selbst etwas davon gespürt hätte.

Es war der härteste Kampf, den ich in meinem Leben bisher zu bestehen gehabt hatte. Trotzdem, es gab tatsächlich keinen einzigen Moment, an dem ich mich komplett schwach gefühlt hätte. Ich habe Ches Liebe immer bei mir getragen. Sie war alles, was mir in den schweren Stunden geblieben war. Das Einzige, was zählte. Dieses Gefühl, das ich nie mehr vergessen werde.

Die Sonne strahlte durch das grüne Dach der alten Bäume. Die Blätter seufzten eine beruhigende Melodie und ließen mich kurz die Entfernung zu meinem Liebsten vergessen. Der Wind wehte mir immer wieder eine Haarsträhne ins Gesicht und es fühlte sich an, als würde jemand meine Wange liebkosen.

„Man muss nie verzweifeln, wenn etwas verloren geht. Was zu uns gehört, bleibt bei uns. Das ist ein Gesetz. Auch wenn es über unsere Einsicht hinausgeht. Besonders wenn so junge Menschen von uns gehen", sagte der Geistliche, der die Trauerrede am Rande des Grabes hielt. Es gab keinen Gottesdienst. Einerseits wegen der strengen Auflagen, andererseits, weil Ches Familie nicht übermäßig religiös gewesen war.

Ich sah mich um. Wir waren eine Handvoll Menschen. Philippa Moser, Ches Oma, stand mir gegenüber. Tränen flossen über ihre Wangen. Sie hatte sich bei Erika eingehängt, die eine große, altmodische Sonnenbrille trug, so dass sich die beiden gegenseitig stützen konnten.

Endlich hatte ich sie kennen gelernt. Zuerst war ich überrascht gewesen, wie jung Ches Oma wirkte. Erst, wenn man genau hinsah, bemerkte man die feinen Linien um Mund und Augen. Nach allem, was ich über sie erfahren hatte, hatte ich mir eine typische, etwas altbackene und blasse, Halstuch tragende Geschichtsprofessorin vorgestellt. Dieses Klischee erfüllte sie so gar nicht.

Pippa, wie sie genannt werden wollte, war groß und trotz des Lockdowns braun gebrannt. Sie wirkte sportlich, als würde sie in Kalifornien Surf-Unterricht geben und nicht im kalten Norddeutschland Geschichte lehren. Tatsächlich liebte sie Strandspaziergänge und hielt sogar ihre Online-Seminare ab, während sie in den Dünen der Ostsee herumlief. Außerdem hatte sie dieselbe kleine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen wie Ches Papa auf dem Hochzeitsfoto.

Sie trug eine große, modische Hornbrille. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, hatte sie Blue Jeans und ein schwarzes T-Shirt im Ethno-Design angehabt, das ich mir wohl selbst gekauft hätte, wenn ich es zufällig in einem Shop entdeckt hätte. Ihr langes weißblondes Haar hatte sie zu einem legeren Messy-Dutt hochgesteckt. Heute fiel es lose und leicht gewellt bis weit über ihre Schultern.

Ches Großmutter hatte dieselben blauen Augen wie er. Jetzt waren sie gerötet und drückten ihren tiefen Schmerz aus. Neben Erika saß Frau Sedlacek auf einem Klappstuhl, den man für die alte Frau bereitgestellt hat. Alle drei hielten, wie ich, eine Narzisse in der Hand, die wir im Anschluss an die Trauerrede als Beigabe ins Grab werfen wollten. Die Frau in der Gärtnerei des Zentralfriedhofs hatte uns diese Blume neben einigen anderen vorgeschlagen, weil sie für Wiedergeburt und die Kraft stand, die Dunkelheit und den Tod zu überwinden. Der Stiel meiner Pflanze war schon ganz zerdrückt. Um sich daran festzuhalten, taugte sie nichts.

„Die Zeit verlässt uns manchmal, während wir sie am meisten brauchen. Wir dürfen nie vergessen: Man liebt, solange man lebt und man lebt, solange man kann. Die Liebe ist ein Fluss, kein Tropfen geht verloren. Stille füllt vielleicht den Raum, doch der Platz in unseren Herzen bleibt immer erfüllt mit ihren Klängen. Wir alle müssen uns eines Tages auf diesen Weg begeben. Er wird uns alle eines Tages nach Hause führen."

Lockdown-LiebeWhere stories live. Discover now