//Ⅰ// 𝐒𝐞𝐞𝐥𝐞𝐧𝐧𝐚𝐜𝐡𝐭𝐞𝐧

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𝑺𝒆𝒆𝒍𝒆𝒏𝒏𝒂𝒄𝒉𝒕𝒆𝒏 – N𝒊𝒎𝒎𝒔𝒕 𝒅𝒖 𝒅𝒊𝒆 𝑬𝒊𝒏𝒍𝒂𝒅𝒖𝒏𝒈 𝒂𝒏 𝒐𝒅𝒆𝒓 𝒔𝒄𝒉𝒍ä𝒈𝒔𝒕 𝒅𝒖 𝒔𝒊𝒆 𝒂𝒖𝒔?

Knarzend drückten sich die Dielen der morschen Hängebrücke unter Marys Gewicht durch, als sie einen weiteren vorsichtigen Schritt in Richtung Ziel wagte. All ihre Stoßgebete, die sie in einem verzweifelten Moment gen Himmel schickte, wollten sie nicht vor dem Übel schützen, das bereits hämisch lachend und sein Maul gierig aufreißend nach ihr lechzte.

Die Gänsehaut, die ihr eisig das Rückgrat hinunterglitt, bestätigt ihre größte Angst. Der Tod – das unausweichliche Übel, das die Menschen seit jeher ohne Rücksicht auf Trauer und Schmerz zu sich nahmen – umfing ihre Seele mit seinen knochigen, alten Finger, zerrte an ihren Kleidern und drohte, die alte Brücke samt ihrem Leben den Abhang hinunter zu reißen.

Ihre Gedanken, ein Orkan von Gefühlen, Emotionen und Ängsten, ausgelöst von einer dummen Wette, verstummten, als ein lautes durchdringendes Pfeifen ihr Trommelfell zu zerspringen drohte.

Trotz ihrer überwältigenden Angst löste sie in einem Moment der schieren Panik – sowohl auch Dummheit, wenn man die Sache unter die Lupe nahm – ihren eisernen Griff um das sichernde Seil. Doch ehe die Dielen unter ihr zerbrechen konnten, umfing eine starke Hand die ihre und zog.

Mary hatte bereits ihr Leben an ihrem inneren Auge vorbeiziehen sehen, noch ehe ihre Sneakers den kalten Boden der Höhle unter sich wiederfanden.
Keuchend rappelte das Mädchen sich auf, strich sich vergewissernd übers Gesicht und erstarrte noch während dem Atemzug.

Vielleicht war es das erschrockene Aufjapsen oder auch vielleicht der Horror, der die Mimik des Mädchens für einen Moment verzerrte, bevor sie sich fassen konnte, doch irgendetwas schien den Mann unheimlich zu amüsieren.
Grinsend streckte ihr der Weißhaarige, der vielleicht Mitte 20 war, ihr seine behandschuhte Hand entgegen: »Was für eine Freude, ich darf dich in Seelennachten willkommen heißen! Die einzig wahre Nekropole, in der sich selbst Dracula und Frankenstein niederlassen würden!«

Mit einer ausschweifenden Handbewegung deutete der Hutmacher-Verschnitt im exklusiven Vanish-weiß auf die Stadt, die hinter all den weitläufigen Gängen zu liegen schien. Mary konnte ihr Glück kaum fassen! Sie hatten Recht behalten! Seelennachten entsprang keinem Märchen oder einer Lügengeschichte einer dementen Urgroßmutter!

Freudestrahlend nahm Mary den Anblick, der sich vor ihr erstreckte, weiter als sie wohl erahnen konnte, in sich auf. Erst als sich die Szenerie von blass glühenden Schneeglöckchen, die in ein weites Feld von Freude strahlenden Schneestolze mündeten, zu dem Abbild einer aus Stein gehauenen unterirdischen Großstadt wandelte, bemerkte Mary den Griff des Mannes, der sie unermüdlich hinter sich her schliff und sich selbst zutextet.

Bei all den verschiedenen Eindrücken, die auf einmal in ihr Sichtfeld gerieten, war es wahrlich ein unmögliches Unterfangen, alles auf einmal aufnehmen zu wollen. Blumen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, schlängelten sich um Brüstungen und um alte Statuen von Erzengeln und Dämonen. All jene Wesen, die sich durch die engen Ritzen und Klüfte der steinernen Mauern zwängten, strahlten in den buntesten Farben und lieferten sich einen sichtlich harten Kampf mit den Blumen, wer nun schöner und prächtiger leuchtete.

Marys Lachen blieb ihr jedoch im Hals stecken, als sie mit ihrem Begleiter in eine dunkle und modrige Seitengasse abbog.
Ihr Begleiter schwieg.
Sie konnte dem Mann vertrauen – zumindest hoffte sie es tief in ihrem Herzen. Doch ein unmissverständlicher Fakt ließ ihr Herz Saltos schlagen. Nur ihre Schritte waren es, die auf dem Steinpflaster widerhallten, und nur ihr Atem schallte flach von den engen Wänden zurück. Der Mann vor ihr glich nun eher einer Geistergestalt in einem weißen Anzug mit passendem Hut und einem Gehstock in der rechten Hand.

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⏰ Last updated: Aug 17, 2021 ⏰

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𝑾𝒆𝒍𝒕𝒆𝒏𝒘𝒂𝒏𝒅𝒍𝒆𝒓      //𝘒𝘶𝘳𝘻𝘨𝘦𝘴𝘤𝘩𝘪𝘤𝘩𝘵𝘦𝘯//Where stories live. Discover now