Prolog - Zwischen Abgrund und Schein

145 9 0
                                    

Am Ende sterben wir alle einsam und nichts von dem, was unser eigen ist, wird für die Ewigkeit bleiben.
Es war nur ein Zitat im Versuch, das Niveau des sinnbefreiten Radiosenders zu heben. In diesem Moment jedoch hasste sie den schlauen Menschen, der die Worte ahnungslos in die Leere gehaucht hatte. Der keinen Schimmer davon gehabt hatte, was es bedeutete, zu sterben. Was der Tod und die Welt waren. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal gewusst, was Leben wirklich war.
Sie konnte es selbst nicht wirklich sagen, viel zu lange war es her, dass sie es gespürt hatte. Das Blut in ihren Adern, wie es pulsierend und heiß durch ihren Körper schoss, wenn sie verlegen war oder voller Vorfreude auf ein Ereignis, das sie lange ersehnt hatte. So viel Zeit war verstrichen.
Und es stimmte: Nichts war geblieben. Kein Mensch, der ihr nahe gestanden hatte. Kein Tier, das nicht viel zu früh verschieden war. Nicht einmal die materiellen Dinge blieben, wenn sie nur lange genug dem Zahn der Zeit ausgeliefert waren. Er nagte an allem, zerfraß Eisen und Fleisch, verschlang Erinnerungen und ließ nichts zurück als ein undurchdringliches Meer aus Unwissen und Verderben. Sie spürte es. Tagtäglich krochen kalte Schauer ihre nackten Füße empor, wenn sie in den feuchten Kellergewölben des verfallenen Gutshauses erwachte. Fast täglich riefen sie nach ihr - die Toten. Verlangten, dass sie sich zu ihnen bettete und die lieblichen Augen schloss, für immer den tiefschwarzen Sternenhimmel vergaß.
Wie konnte sie nur vergessen? Es ging nicht. Nicht nach all dem, was geschehen war. Sie wollte es ja nicht einmal, war froh darüber, jede noch so unbedeutende Begebenheit noch vor ihrem inneren Auge zu sehen. Nichts war wichtiger als ein gutes Gedächtnis, wenn man ewig existierte. All die Narren, all die Kämpfe und Kriege um Macht und Reichtum, all die Intrigen. Man musste wissen, mit wem man im Bunde war. Doch noch viel wichtiger war es, den Feind zu kennen. Und Feinde hatte sie viele, zweifelsohne. Mit den Jahren wurden es mal mehr, mal weniger. Die einen sahen ihren Irrtum ein, die anderen mussten einsehen. Dazwischen existierte nichts.
Nichts, außer ein feiner, sehr schmaler Grat aus grauen Nuancen. Ein Raum, in dem sich manche ihrer Zeitgenossen zu bewegen wagten. Einer von ihnen nutzte ihn auf ganz besondere Art und Weise in vollen Zügen aus. Es war ihr größter Feind und stärkster Verbündeter gleichermaßen. Letzteres zumindest hätte er sein sollen, hätte er sie nicht verraten. Hätte er nicht denselben Mummenschanz mit ihr getrieben wie mit all den anderen Mädchen zuvor. Sie war auf diese einfältige Masche hereingefallen und bereute es. Bis heute malte sie sich aus, wie es hätte sein können, wäre sie nicht gegangen. Und doch hatte er ihr das größte Geschenk gemacht, das sie hatte empfangen können. Zu schade für ihn, dass er es selbst nicht zu schätzen wusste.
Arroganz war ein Gift. Es wirkte nur umso schneller, wenn man zu stolz war, sich die Hände schmutzig zu machen. Anderenfalls hätte ihr das Überleben weit fort von ihm nicht gelingen können. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, sie zurück zu holen, sie seinem Zorn zu unterstellen und auf seinen Ländereien zu bannen, dass sie nie mehr von der Welt gesehen hätte, als ihr ihre Sterblichkeit vergönnt hätte. Doch statt seiner selbst war sein Lakai ihr gefolgt. Eine langsame Gestalt, kaum mehr als eine Laune der Natur. Er hatte sie nicht einholen können. Natürlich nicht.
Lächelnd betrachtete sie die Straße. Nur wenige Laternen warfen ihren Lichtkegel auf den grob gepflasterten Bürgersteig. Ihr dunkler Jaguar fiel nicht auf, verschmolz geradezu mit den Schatten der Nacht. Ihn jedoch, ihn konnte sie bestens erkennen. Er hielt sich zwischen Licht und Dunkelheit, dort wo er sich stets befand, lehnte an seiner überteuerten Limousine. Eine Marke von hohem Prestige. Mit Gewöhnlichem hatte er sich noch nie zufrieden gegeben. Stets stach er hervor. Ein Wunder, dass seine Existenz noch immer währte, hatte man ihm schon an Drohungen genug zukommen lassen. Allein der Verlust seines geliebten Schlosses hätte ihn wachrütteln müssen. Im verheerenden Brand 1917 war es bis auf die Grundmauern zerstört worden. Von seiner Brut hatte es nur einen Überlebenden außer ihm und seinem Erben gegeben.
Geändert hatte er sein Verhalten dennoch nie. Im Irrglauben fernab der neuen Politik leben zu können, tat er stets was ihm beliebte. Nur gab es inzwischen Institutionen, die seinem Starrsinn mit Argwohn gegenüber standen. Es war keine geringere als die oberste von ihnen, der das Inferno geschuldet war. In Erinnerung an die heiße Diskussion zupfte ihr Mundwinkel verächtlich. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte das Feuer nicht nur die Brut vernichtet.
Wahrscheinlich aber wäre es ohnehin zu spät gewesen. Sein erster Fehler war es gewesen, sie zu einer der seinen zu machen. Sein größter jedoch war gleichwohl vor ihrer Zeit geschehen, wie in diesem Moment keine fünfhundert Meter von ihr entfernt. Dieses Mädchen, mit dem es begonnen hatte. Dieses absurde Paradoxon.
Noch immer war es ihr rätselhaft, wie etwas derartiges hatte geschehen können. Doch sich den Kopf über Irrelevantes zu zerbrechen lag nicht in ihrem Sinn. Es war geschehen und konnte nicht revidiert werden. Die einzige Option, die blieb, war, in bestmöglicher Weise dafür zu sorgen, dass es keine Probleme bereitete. Beim besten Willen, davon hatten sie genug! All diese rebellischen Auswüchse in den größeren Städten der Welt! Wie sollte man sie im Zaum halten, wenn man nicht einmal den Mist vor der eigenen Tür kehren konnte?
Ihre Finger trommelten auf das Lenkrad. Auch wenn Zeit für sie keine Bedeutung mehr hatte, so verging sie an diesem Abend doch quälend langsam. Tief durchatmend lehnte sie sich in die weichen Polster zurück. Das helle Leder knarzte leise, als ihre schwarze Jacke daran rieb. Wo blieb dieses Mädchen nur? Jeden Donnerstag der letzten drei Wochen verließ sie pünktlich um neun Uhr die Praxis. Jede Woche aufs Neue trat sie um diese Uhrzeit ihren zwanzigminütigen Fußmarsch an, der sie zum Haus ihrer Eltern führen würde. Doch heute verspätete sie sich. Selbst er wurde nervös, strich Strähnen aus seinem Gesicht, die sich der streng zurückgebundenen Frisur entwanden. Sie erinnerte sich so gut daran, warum sie ihm damals verfallen war. All dieser dunkle Charme, die Faszination des Verborgenen reizte sie noch jetzt. Doch war ihr Verstand seit langem stark genug, um seine Lügen zu sehen.
Die Tür zum unscheinbaren Altbau der Praxis schwang auf. Das Kind betrat ahnungslos den Heimweg - stockte, als es ihn erkannte. Wie dumm sie war, einfach stehen zu bleiben. Gebannt beobachtete sie, wie er auf das Mädchen zuging, sie scheinbar erneut mit seinen Blicken gefangen nahm und ihren Nacken umfasste. Nur gut so, sollte er sie töten! So würde er ihr so manche Mühen ersparen.
Doch den Gefallen tat er ihr nicht. Stattdessen verfrachtete er sie plötzlich in seinen Wagen, startete den Motor und fuhr viel zu schnell für einen verkehrsberuhigten Bereich davon.
Ihr grimmiger Blick folgte der Limousine, bis sie um die nächste Ecke bog, dann startete sie den Jaguar. Irgendetwas war geschehen. Etwas war anders als sonst. Er war anders. Es wurmte sie, ihn so zu erleben. Zu erleben, wie er eine andere so behandelte, wie sie es sich stets erträumt hatte. Doch wollte sie sich nicht von ihrem längst verblassten Verliebtsein trüben lassen. Nein, da war noch mehr. Etwas, das sehr stark nach Ärger roch. Sie musste nur noch herausfinden, was bei allen Höllenkreisen es war.

Gegenwart ist FluchWhere stories live. Discover now