❝ I remember you said you were scared
And so am I ❞ ~ Billie EilishAdeline verließ das kleine B&B am Rande Worcesters wie immer mindestens 20 Minuten später, als ihr Arbeitsvertrag vorsah. Ihr machte es nichts aus, am Ende ihrer Schicht die Mülleimer im gesamten Haus zur leeren und den Müll nach draußen zu bringen. So kam sie jedes Mal an der ihr wohl liebsten Ecke des roten Backsteinhäuschens vorbei: Dem Rosengarten. Besonders im Sommer ließ sie sich besonders viel Zeit damit, die Mülltonnen im hinteren Bereich des Hauses zu füllen, da sie so ihre eigene Arbeit bewundern konnte. Obwohl es an diesem schwülen Donnerstag Mittag angefangen hatte zu nieseln, wehte der Duft von rosafarbenen Englischen Rosen zu ihr herüber, die in einem Meer von weißen Rosen blühten. Die blau blühenden Stauden hatte sie zusammen mit Gracie eingepflanzt, die behauptet hatte, dass dem Garten sonst an Lebhaftigkeit wehte. Allein bei dem Gedanken an Gracie zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen und ihre Augen begannen zu kribbeln. Nachdem sie die gesamte letzte Woche damit verbracht hatte zu weinen, hatte sie keine Tränen mehr übrig. Stattdessen wurde sie immer mehr von Zorn erfüllt. Warum hatte es Gracie treffen müssen? Warum Daniel?
Adeline schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch ihre Gedanken loswerden, und fing an zu laufen. Aus dem leichten Nieseln war innerhalb weniger Sekunden ein starker Regen geworden, der von Donnerschlägen begleitet wurde, und sie wollte den nächsten Bus bekommen, der immer mit einigen Minuten Verspätung einfuhr. Außer Puste und völlig durchnässt zwängte sich Adeline zwischen die Menschenmenge, die sich unter der einzigen bedachten Haltestelle gebildet hatte. Dies bedeutete zu ihrem Glück, dass der Bus noch nicht eingefahren war. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und versuchte vergeblich mithilfe der Spiegelung ihres zersprungenen Displays ihre schwarzen Locken in Ordnung zu bringen. Einige Minuten später saß sie in einem überfüllten Bus und lehnte ihren Kopf an die kühle Fensterscheibe zu ihrer rechten. Der Bus verließ das ruhige Bevere und fuhr dem Zentrum der Stadt entgegen. Erst als sie mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe stieß, weil der Bus über eine rumpelige Straße gefahren war, bemerkte Adeline, dass ihr vor Müdigkeit die Augen zugefallen waren. Die fein gekleidete Seniorin, die sich irgendwann neben sich gesetzt haben musste, schaute sie mitleidig an und blickte dann schnell weg. Adeline verkniff es sich, eine Grimasse zu schneiden und gab sich Mühe, nicht erneut einzuschlafen, bis sie endlich an ihrer Station, Barboune Brook, aussteigen konnte.
Bis sie zu Hause angekommen war, war Adeline vollkommen durchnässt und ihre mühevoll zusammengebundenen Locken hatten sich aus ihrem Dutt gelöst. Adeline entschied sich dazu, eine warme Dusche zu nehmen und sich anschließend irgendeinen Film in ihrem Bett reinzuziehen. Aus der kurzen Dusche wurde allerdings ein langes Bad, und als sie schließlich in ihr Zimmer trat, entschied sie sich lieber dazu, der Unordnung, die sie in den letzten Tagen ignoriert hatte, ein Ende zu setzen. Die junge Studentin begann damit, die ungewaschene Kleidung auf ihrem Bett zu stapeln. Dabei fiel ihr erneut das schwarze Kleid ins Auge, dass sie zu Gracies und Daniels Beerdigung getragen hatte. Sie nahm es in die Hände und drückte es gegen ihre Wange.
Heute haben wir uns hier versammelt, um den Tod von zwei geliebten Freunden zu betrauern. Ich hätte nie gedacht, dass es Gracie und Daniel so früh treffen würde. Ich dachte immer, wenn wir einmal sterben, dann wenn wir alt sind und unser Leben gelebt haben. Ich dachte immer, dass wir dann bereits alles gesehen haben und uns der Abschied deshalb leicht fällt. Und ich hab mir irgendwie immer vorgestellt, dass wir gemeinsam von der Erde gehen. Aber wie schon so oft zuvor habt ihr mich eines Besseren belehrt.
Adeline schreckte zusammen als der stürmische Wind Äste über das die Fensterscheiben in ihrem Zimmer kratzen ließ. Sie warf das schwarze Kleid energisch auf den Kleiderstapel auf ihrem Bett und schaltete das alte Radio auf ihrem Nachtschrank an. Die leisen Stimmen der Radiosprecher halfen ihr dabei, ihr kleines Zimmer wieder in Ordnung zu bringen. Als ihr Handy klingelte, hatte Adeline bereits die Wäsche in den kleinen Waschkeller des fünfstöckigen Gebäudes gebracht und war gerade dabei, den Teppich vor ihrem Bett zu saugen. Unzufrieden blickte sie auf die Kekskrümmel hinunter, die sich in dem flauschigen schwarzen Teppich festgesetzt hatten.
»Hallo?«
»Ich hätte es sein sollen. Ich... Ich hätte Daniel von dieser beschissenen Party abholen und nicht Gracie losschicken sollen. Ich hätte einfach ein verdammt besserer Bruder sein sollen und das alles wäre nicht passiert!«, lallte Henry am anderen Ende der Leitung. Adeline zerriss es das Herz, als er anfing zu schluchzen.
»Henry... Es ist nicht deine Schuld. Was passiert ist, hätte keiner vorhersehen können. Du musst aufhören, dich deshalb selbst zu zerstören-«
Bevor Adeline weiter versuchen konnte, Henry zu beruhigen, hörte sie, wie ein Glas in die Brüche ging und es daraufhin männliches Gegröle und die Schimpftirade einer Barkeeperin gab.
»Du verstehst das nicht Adeline.« Henry senkte seine plötzlich beunruhigend klare Stimme. »Weißt du was ich getan habe als Daniel mich gebraucht hat?«
Adeline schüttelte stumm den Kopf, als könnte Henry sie sehen. Er nahm ihr Schweigen zur Kenntnis und stieß ein verbittertes Lachen aus.
»Ich war bei Alana.«
Adeline hielt sich die Hand vor dem Mund, um den verzweifelten Laut zu ersticken, der ihr entweichen wollte.
»Was hast du da gemacht, bei Alana?«, fragte sie mit klopfendem Herzen.
»Ich... eigentlich wollte ich nur was für Gracie holen. Aber dann...«, Henry schluckte.
»Was hast du gemacht, Henry?«, wiederholte Adeline tonlos. Sie wusste bereits, was er sagen würde, aber sie wollte es nicht glauben.
»Ich hab sie betrogen!«, stieß Henry aus. »Ich habe Gracie betrogen und habe sie dann in ihren Tod geschickt. Es hätte verdammt noch mal mich treffen sollen. Es hätte mich treffen sollen, Adeline!«
Adeline hörte Henry kaum noch, seine Stimme ging in dem Rauschen in ihren Ohren unter. Sie war eine solche Idiotin. Gracie hatte eine so lange Zeit vermutet, dass zwischen ihrer Zimmernachbarin und Henry etwas lief und Adeline hatte immer abgewunken. Sie hatte ihren besten Freund vor ihrer besten Freundin verteidigt und nicht genau genug hingeschaut. Und jetzt war Gracie tot, ohne je zu erfahren, dass sie recht gehabt hatte. Adeline blickte auf den zerkratzten Bildschirm ihres Handys herunter, aus dem weiterhin Henrys erbärmliche Stimme ertönte.
»Adeline, bist du noch dran? Ich wollte es ihr... Ich hatte vor -«, begann er, doch Adeline ließ ihn nicht ausreden. Er hätte es ihr sagen müssen. Wenn schon nicht Gracie, dann ihr und sie hätten eine Lösung gefunden. Vielleicht hätte sie es Gracie schonend beibringen können. Aber jetzt waren sie und Daniel tot und Henry war ein verdammter Lügner und sie... Sie konnte nichts daran ändern. Das Rauschen wurde von Stille abgelöst. Sie hielt sich ihr Handy wieder ans Ohr und Henry hielt den Mund, als wüsste er dies. Er kannte sie so gut, wie sie geglaubt hatte, ihn zu kennen. Doch die folgenden Worte hatte er noch nie aus ihrem Mund gehört:
»Fahr zur Hölle.«
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Rough Diamond
RomanceAls Kontrollfreak Adeline eines Tages aus ihrem eingespielten und doch anstrengenden Alltag herausgerissen und im Auftrag des königlichen Schlosses Winter abgeholt wird, scheinen gleichzeitig ihre Träume und Albträume wahr zu werden: Zum ersten Mal...