Sechsundzwanzig

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***Cassie***

Schon seit zwei Stunden schaue ich immer wieder zu Lina, die vorne in der ersten Reihe links am Fenster sitzt. Ich muss zugeben, dass es mich ein wenig nervt, dass ich nicht mitbekomme worüber die mit Frau Wagner redet. Es macht aber den Eindruck, als würden die beiden ein amüsantes Gespräch führen. Lina lacht immer wieder und die Blonde Lehrerin ebenfalls. Ich würde gerne dort sitzen, wo Frau Wagner sitzt, aber das würde blöd kommen. Wer sitzt denn bitte freiwillig für mehrere Stunden Busfahrt neben seinem Lehrer. Richtig, niemand.

Emma neben mir bewegt ihren Kopf auf meiner Schulter. Vor einer halben Stunde ist sie eingenickt und ihr Kopf landete irgendwie auf meiner Schulter. Es stört mich nicht besonders und so habe ich meine ruhe. Emma hat mir eine gefühlte Ewigkeit bis ins kleinste Detail von ihrer Trennung von ihrem Freund erzählt und das es dieses Mal endgültig ist. Ich bin mir noch nicht sicher, ob sie nicht doch wieder zu ihrem Ex gehen wird, sobald er sich wieder bei ihr meldet. Zumindest lief es in Vergangenheit oft so ab. Ein hin und her zwischen den beiden, dass ich bis heute nicht verstanden habe. Entweder man entscheidet sich dafür mit jemand eine Beziehung zu führen oder man lässt es bleiben.

Seufzend sehe ich auf mein Handy und denke darüber nach, was ich Lina schreiben könnte. Mir fällt einfach nichts gutes ein. Außerdem sitzt ja Frau Wagner neben ihr und könnte wahrscheinlich Linas Nachrichten mitlesen. Verdammt, wie lange dauert diese blöde Fahrt denn noch? So langsam werde ich ungeduldig und will endlich mit Lina alleine sein. Ich bezweifle aber, dass es in den nächsten Stunde dazu kommen wird. Als erstes werden wir an die Schule der Austauschschüler fahren und diese dort kennenlernen. So wie ich unsere Lehrer kennen, werden sie daraus ein Event von mehreren Stunden machen, obwohl keiner der Schüler Lust auf kindische kennenlernspiele hat. Jeder ist müde von der langen Busfahrt auf unbequemen Sitzen. Was mich betrifft möchte ich gerne einfach für eine Weile meine Ruhe haben. Hier im Bus ist es so laut, alle reden und selbst meine Musik über die Earpods hilft da nicht.

Eine weitere unendlich lange Stunde vergeht bis Herr Carlson durch das Mikrofon des Busses verkündet, dass wir in wenigen Minuten da sein werden. Endlich! Ich wecke Emma neben mir, die es tatsächlich geschafft hat über die Hälfte der Fahrt zu verschlafen. Ich beneide sie ein wenig. Während langen Autofahrten oder ähnlichem kann ich nie schlafen.

"Was ist los?", will sie verschlafen von mir wissen und reibt sich mit dem Handrücken über die Augen.

"Wir sind gleich da", informiere ich sie.

"Echt schon?", fragt sie überrascht.

"Du hast die Hälfte gepennt. Nix da echt schon", sage ich und schüttelte mit dem Kopf.

"Hm", macht Emma und streicht sich ihre Haare hinters Ohr. "Hab ich was verpasst?"

"Nö. Es ist echt rein gar nichts passiert."

Wenn man mal davon absieht, dass Lina sich anscheinend super mit Frau Wagner versteht. Ich wüsste immer noch gerne worüber die beiden sich über mehrere Stunden lang unterhalten haben. Vielleicht haben sie aber auch bloß über den Austausch geredet.

" Na dann", meint Emma Achselzuckend.

Im Bus wird es lauter und Herr Carlson bringt die Meute mit einem Pfiff zur Ruhe. Durch das Mikrofon des Busses labert er irgendetwas davon, dass wir uns in der Aula der Schule versammeln werden und dort jeder seinen Austauschschüler kennenlernen wird. Zu Schluss ermahnt er noch alle dazu sich zu benehmen und von ihrer besten Seite zu zeigen.
Natürlich hat jeder im voraus den Namen des Austauschschülers bekommen, dem man zugeteilt wurde. Meine heißt Claire.

"Hoffentlich ist die bei der ich wohne werde cool drauf", sagt Emma.

Ich bin mir nicht so sicher ob sie mit mir oder mit sich selbst redet. Aus diesem Grund nicke ich und hoffe, dass sie keine Antwort von mir erwartet.

"Stimmt es eigentlich, dass du die Tochter der Lehrerin abbekommen hast?", will sie wissen.

"Jap", antworte ich.

Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, wie blöd ich das finde, aber dafür reicht die Zeit nicht mehr. Emma fängt nämlich wieder an zu reden. Wie es aussieht muss sie die beinahe zwei Stunden, die sie verschlafen hat und nicht mit mir erzählen konnte, nachholen.

"O Mann, das ist ja mal ätzend. Da bist du ja ständig unter Beobachtung", erwidert sie.

Ich würde ihr gerne sagen, dass das nicht stimmt, lasse es aber. Was sollte ich denn schon sagen? Ich wollte mit Frau Roth zusammen sein, weil ich in sie verliebt bin? Nein. Das kann und werde ich ihr niemals sagen.

"Hoffentlich gibt es dort auch ein paar heiße Jungs. Wie sagt man zu Jungen auf französisch?"

"Garçon", beantwortet ich ihre Frage.

Eigentlich müsste Emma das wissen, da sie selbst Französisch hat. Anscheinend ist Frau Wagner keine so gute Lehrerin. Wenn sie ihren Schülern nicht mal die einfachsten Worte beibringt.
Wir verlassen den Bus und sofort fragen einige Mädels, wo die Toiletten sind. Ich sehe mich nach Lina um.

"Wusstest du eigentlich, dass die zwei sich so gut verstehen?", frage ich Emma und deute mit einem Nicken in Richtung von Lina und Frau Wagner.

Lina hat mir gegenüber nie erwähnt, dass sie mit Frau Wagner befreundet ist. Es stört mich, dass sie dieser Frau mehr Beachtung schenkt als mir. Mich hat Lina heute kaum eines blickes gewürdigt und mit der labert sie schon seit Stunden. Muss das nicht langweilig werden Stunden lang über die Schule zu reden?

"Nö. Frau Roth klebt doch eigentlich die ganze Zeit an dem Beringer. Die sind ja fast wie ein verliebtes Pärchen. Meinst du die sind echt zusammen?"

Was? Wieso denkt eigentlich fast jeder, dass Lina mit dem blöden Herr Beringer zusammen sei? Wie kommt man auf diese Idee? Mag sein, dass die zwei sich gut verstehen und Lina oft mit dem Typ in den Pausenaufsichten redet, aber daraus zu schlussfolgern, dass sie zusammen wären? So weit würde ich nicht gehen.

"Nein", antworte ich.

Wie gerne würde ich Emma nun sagen, dass es gar nicht möglich ist, weil Lina bereits vergeben ist und nicht auf Männer steht. Obwohl bei letzteres bin ich mir nicht so zu hundert Prozent sicher. Wir haben nie darüber gesprochen und eigentlich ist es mir auch egal.

"Denkst du echt? In letzter Zeit reden die doch kaum noch miteinander. Vielleicht stecken sie in einer Beziehungskrise oder so", redet Emma weiter.

"Glaube ich nicht", sage ich und muss mich bemühen so desinteressiert, wie nur möglich zu klingen.

Am liebsten würde ich laut sagen, dass nichts läuft zwischen Lina und Herr Beringer, weil sie mit mir zusammen ist. Sie ist meine Lina und wir lieben uns. Echt beschissen, dass ich das niemand erzählen kann.

"Ist ja aber auch egal. Geht uns nix an", füge ich noch hinzu und hoffe, dass Emma über was anderes reden wird.

Ich hab keine lust mehr zu hören, wie sie sich zusammen spinnt, dass zwischen Lina und irgendwem etwas laufen könnte. Daran will ich nicht denken.

Midnight love Where stories live. Discover now