Prolog

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Chris 


"Shana", stöhne ich genervt. "Nicht jetzt."

Auch nicht morgen, oder übermorgen, oder den Tag danach. 

"Du versäumst dir die Chance deines Lebens, kleiner Bruder." Chance? Auf das gleiche Spiel, wie immer? Nein, danke. 

Ohne ihr weiter zuzuhören, beende ich das Gespräch und lege mein Handy zur Seite. Das ist diese Woche schon das vierte Mal, dass sie mich anruft, während ich ihr tausend mal gesagt habe, dass ich arbeiten bin und auf ein Doppeldate mit ihrem Freund und einer Freundin einlädt.
Was versteht sie nicht darunter, dass ich kein Interesse habe, eine weitere durchgeknallte Freundin von ihr kennenzulernen? Die letzten drei Mal sind so nach hinten losgegangen, dass ich eine Anzeige wegen Stalking, bei der Polizei aufgegeben habe. Frauen sehen in mir eben nicht mehr der Mann, der ich hinter der Karriere bin und das fuckt mich richtig ab. 

Seufzend streife ich mein Haar aus dem Gesicht und lehne mich im Stuhl nach hinten. In dem schwarzen Anzug und dem grauen Mantel wird mir langsam echt heiß, aber ich habe nicht vor, lange in Marcs Büro zu sein, wie es notwendig ist. Es geht heute nur um eine Rolle, die ich annehmen soll. Irgendwo in Atlanta. Ich habe noch keine Ahnung, wen ich im Set antreffe, oder um was es überhaupt geht. Oder gar welche Rolle ich übernehme. Am Liebsten wäre es mir, irgendeine Hauptrolle zu bekommen und Monate von meiner Familie wegzukommen. Nicht falsch verstehen, ich liebe meine Geschwister und vor allem meine Eltern, aber zur Zeit gehen sie mir wirklich auf die Nerven. Seit meinem 40sten Geburtstag drehen sie alle durch und denken, ich würde keine Frau mehr finden. Sie verhalten sich, als wäre ich 50 geworden und nicht 40. 

"Sorry, Kumpel", sagt Marc, als er in das Büro tritt und die Tür hinter sich schließt. "Ich hab noch mit der Produktion und den Resseguieren telefoniert. Ist ne krasse Rolle, die du da bekommen sollst." Da bin ich ja mal gespannt.
"Ich weiß noch nicht einmal, um was es geht", antworte ich und verfolge seine Statur. Er ist gerade mal Mitte 30, verheiratet und hat fünf Kinder. Trotzdem arbeitet er von früh bis Abends hier in seinem Büro und übermittelt mich Weltweit. Mein Terminplaner ist quasi voll und zum Ersticken, dennoch macht er seine Arbeit gut und zufriedenstellend. Ohne ihn würde ich sicher schon den Überblick über all meine Termine verloren haben, oder hätte mehrere übereinander gelegt.
Marc trägt einen fünf Tage Bart, hat mittelblondes Haar und es meistens zu einem Zopf nach hinten gebunden. Seine grauen Augen sind hell und fallen in einer Ansammlung von Menschen immer noch auf, genau wie sein Lächeln, wenn er es denn mal tut. Er dürfte fast so groß sein wie ich und trägt gefühlt, jeden Tag den gleichen schwarzen Anzug, mit dem gleichen grauen Schlips. Dabei hat er diesen Anzug 20 mal gekauft. Wenn das überhaupt hinkommt. Dieser Gedanke treibt mir ein Lächeln ins Gesicht und ich nicke innerlich. Er ist ein Perfektionist und sieht lieber dreimal nach, als aus Versehen den Ofen angelassen zu haben. 
"Erzähle ich dir gleich, du wirst begeistert sein. Ein paar der Schauspieler dort kennst du. Ryan Gosling, Sebastian ist auch dort und Mark auch, Haley Bennett und Kingsley ist ebenfalls dort. Du wirst also nicht neu sein." Phu, das raubt mir zumindest mal etwas von der Nervosität, die ich jetzt schon in meinem Kopf zusammenstecke. Es ist verrückt, wie ich andere von ihrer Panik fernhalten kann, doch meine Worte bei mir selbst, einfach nichts bringen und an meinem Kopf abprallen, wie Regen an einem wasserabweichendem Fenster. 
"Wenigstens etwas." Auf Sebastian und Mark freue ich mich am Meisten. Die habe ich seit dem Dreh von Endgame nicht mehr gesehen. Ben und Haley kenne ich vom Red Sea diving Resort noch, auch eine gefühlte Ewigkeit her. Mit Gosling habe ich schon so einige Filme gedreht, die ich verdammt gefeiert habe. Mit ihm zu drehen, macht immer Spaß. "Wie lange wird der Dreh andauern?"
"So ... genau weiß ich das noch nicht, es geht erst in sechs Wochen los."
"Wer dreht den Film ab?", frage ich und gegenüber von mir nimmt er Platz. Wenn er mir jetzt noch die Brüder nennt, dann bin ich der glücklichste Mann der Welt und das ohne Frau. 
"Die Russos. Sie haben mich heute morgen angerufen, deswegen der plötzliche Termin. Anthony persönlich hat nach dir in der Hauptrolle verlangt. Es ..." Er entsperrt seinen Laptop, tippt ein paar mal auf der Tastatur und scrollt dann mit der Maus. vermutlich durch sein Emailfach. "Geht um einen ziemlich krassen Anwalt. Er tötet die Menschen, von denen er weiß, sie haben jemandes Leben abverlangt und wurden trotzdem freigesprochen. Hat wohl eine heftige Organisation im Untergrund gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Menschen zu jagen. Er hat eine Frau oder Verlobte, hab's nur überflogen. Auf jeden Fall hat diese, ihr Gedächtnis verloren und er kidnappt sie, damit sie sich wieder an ihn und alles erinnert, hat aber da wohl schon einen neuen Stecher kennengelernt. Lies es dir selbst durch." Er schiebt mir das Manuskript rüber und ich drehe es um, damit ich es richtig lesen kann. Seine Worte sind schnell und noch etwas wirr in meinem Kopf, aber das Skript klingt schon einmal nicht schlecht und sehr überzeugend. Das wird wieder einer der Filme von mir, die ich mir immer weder reinziehen kann. 
"Degitus, das Leben ist eine Lüge", lese ich laut vor. "Lass mich raten, ich soll diesen Anwalt spielen?" Etwas anderes komme kaum in Frage. Anwälte habe ich schon oft gespielt und es sollte ein Kinderspiel sein, erneut in die Rolle eines rechtschaffenen Mannes zu schlüpfen. 
"Falsch. Du sollst den Typen spielen, der jagt auf seine Perle macht, die sich dann ich ihn verliebt." Ich soll also den Typen spielen, der die Frau entführt und zu seiner eigenen macht. Klingt dramatisch. Ich liebe Drama!
"Wie melancholisch." Kurz blättere ich durch das Skript, dann lege ich es vor mich und lehne mich wieder zurück. Ich habe schon viele verrückte Filme oder Serien durchgespielt, eine weitere wird nicht schaden. Außerdem klingt es nach Tränen und Herzschmerz, genau was ich jetzt gebrauchen kann. Versetze ich weitere Fans da draußen in Schock und Liebe, damit sie noch weniger den Mann hinter der Schauspieler Maske sehen. 

Marcs Büro ist klein.
Das realisiere ich jetzt erst. Das wievielte mal bin ich hier? Hundertste?
An den Wänden rechts und links hängen große Gemälde von irgendwelche Unterschriften und Kindern. Ich denke mal, es sind seine. Noch habe ich seine Frau oder Familie nicht kennengelernt. Wir sind Freunde, das stelle ich nicht in Frage, aber wir haben unser Privatleben  nie miteinander geteilt. 
"Was sagst du? Bist du dabei?"
"Sicher", nicke ich. "Wenn ich vor meiner Familie fliehen kann, ja."
"So schlimm?" Er dreht sich in seinem Drehstuhl nach hinten, wo ein Sideboard steht, auf dem eine hochwertige Kapselmaschine steht. Er kommt mit der Kaffee- Sache, jetzt wird das Gespräch privat. "Willst du auch?" Wieder nicke ich und er nimmt eine Zweite Tasse aus dem Sideboard.
"Milchkaffee, wenn's geht. Diese Kapseldinger schmecken komisch."
"Geht klar, wenn du meine Frage beantwortest."
"Sicher. Sagte ich doch. Sechs Wochen geht's los, ja?" Mit einem kräftigen Nicken schiebt er mir die Tasse vor die Nase, Milch, Zucker hinterher und drückt auf den Knopf für seinen Kaffee.
Bin ja mal gespannt, wie der Dreh wird. Und wie ich die Zeit bis dahin überstehe. Immerhin sind die weiblichen Personen in meinem Umfeld immer noch auf Brautschau für mich und wenn ich eines nicht leiden kann, dann wenn man sich in mein Liebesleben einmischt. Vorausgesetzt es existiert überhaupt eines. 
"Ja. Mit viel Glück sogar früher. Also kann ich Anthony anrufen und sagen, dass du die Rolle des Smiling Killer's annimmst?" Smiling Killer? Was ein bescheuerter Name. Aber ich mag bescheuerte Namen. Die bleiben bekanntlich, am Längsten hängen. 
"Echt jetzt? Hat er keinen ausgefalleneren Namen haben können?", lache ich und schütte etwas Zucker in meinem Kaffee.
"Doch. Ich glaube Dikar war sein Name. Passt zu dir, wenn ich ehrlich bin. Klar, du spielt Superhelden auch ganz gut, aber so ein Untergrundkiller, der andere Killer jagt, weil er denkt, töten liegt nicht in ihrem Recht, steht dir auch sicher gut."
"Ist das nicht verwerflich? Ein Killer, der andere Killer tötet, weil er der Meinung ist, töten darf man nicht?", frage ich ihn und er dreht sich wieder zu mir. 
"Keine Ahnung. Stell dir vor, dass es da draußen sowas wirklich gibt und wir wissen davon nichts, um nicht wie aufgescheuchtes Wild durch das Dickicht zu rennen. Die Politik heutzutage ist heimtückisch und setzt einem meistens das vor die Nase, was man hören will. Oder glauben soll."
"Gerade mache ich mir um dir viel mehr sorgen", lache ich und trinke einen Schluck aus meiner Tasse. Schrecklich, dieser Kapselkaffee. "Wie läuft es mit deiner Frau?"

"Reden wir nicht darüber", sagt er in einem muffigen Unterton. "Frauen strapazieren einen und treiben einem an die Grenzen, die man fett mit Rot und Zäunen markiert hat."

Oh, noch nie habe ich jemandem so recht gegeben, wie ihm, in diesem Moment. 

Neophilis - Chris Evans FanfiktionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt