Alvadee

12 2 0
                                    


Wann immer die Nacht kam, wurde es kalt. Alvadee hätte meinen können, dass ihr die Kälte nichts mehr ausmachte, doch jedes Mal aufs Neue wurde sie eines Besseren belehrt. Auch jetzt zog sie die Enden ihres aus dicker Dunkelschafwolle bestehenden Mantels enger um sich und schritt die einsame Gasse entlang.

Als sie vor einem Haus ankam, dessen hölzerne Tür mit dem kleinen Glasfenster in der oberen Hälfte nur angelehnt war, hielt sie die Luft an und lauschte Aufmerksam. Doch nur das Quietschen der Scharniere war zu vernehmen. Alvadee setzte ihre lederne Umhängetasche auf den Boden und friemelte dann ihr goldenen Medaillon unter ihrer weißen Bluse hervor, die am Kragen mit roten Blumen-Stickereien verziert war. Sie hatte diese Arbeit in der letzten Nacht angefangen und einige Blüten fehlten noch in dem Gesamtbild. Doch Alvadee bezweifelte, dass sie es schaffen würde, diese Nacht ihre Stickerei zum Ende zu bringen.

Das Medaillon war so groß wie ihr Handteller und besaß eine feine Ziselierung eines Hirschgeweihs auf der Vorderfläche. Einige dunkle Einbuchtungen waren in einem halbmondförmigen Bogen über dem Geweih angeordnet, in denen früher kleine Diamantstücke gesessen hatten. Doch diese waren mit der Zeit entweder verloren gegangen oder Alvadees Vater hatte sie herausgebrochen, um eine wertvolle Anschaffung bezahlen zu können.

Sie öffnete den kleinen Verschluss, der die beiden Hälften des Medaillons zusammenhielt und klappte es auf. In seinem Innern befand sich eine goldene Spange. Das Material musste eine Legierung sein, denn es war bereits korrodiert. Dieses Medaillon befand sich schon seit Generationen in ihrer Familie und mit ihm der wichtigste Gegenstand, den sie beschützen mussten: ein kleines, weißes Stück Kreide in der Dicke und Länge ihres kleinen Fingers, das mit goldenen Staubpartikeln durchsetzt war.

Alvadee nahm sie heraus und klappte das Medaillon wieder zu. Dann ging sie zu dem Türrahmen und fuhr mit den Fingern über das zersplitterte Holz. Von der letzten Nacht waren nur noch wenige der weiß-goldenen, präzisen Striche zu erkennen und sie musste sie dringend erneuern. Noch einmal lauschte Alvadee ganz genau, ob das Runenmonster sich noch in dem Innern des Hauses befand. Sie traute sich nie, nachzugucken, was längst nicht so mutig wie ihr Vater. Sie erneuerte einfach nur Nacht für Nacht die Bannrunen und hoffte, dass das Monster niemals entkam.

Zuerst kam die Rune, die es dem Monster verwehren würde, über die Schwelle zu treten. Die Gefängnisrune, die einzige, die es nur in der Form mit der Kreide gab, um ihre Wirkung zu entfalten. Alle anderen Runen existierten auch als Fleischrune. Und Blut war immer stärker als Kreide, selbst wenn diese Kreide mit Goldstaub durchsetzt war, um sie wirksamer zu machen. Alvadee zeichnete den rundlichen Käfig vorsichtig nach. Mit jedem Strich, den sie mit der Kreide setzte, rieselte feiner Staub herab, den sie mit einem kleinen Stück knisterndes Papier auffing. Die Runenkreide nutzte sich viel zu schnell ab und dieses kleine Stück war der spärliche Rest, der von dem einst so großen Brocken übriggeblieben war. Die Gelehrten wollten diese Kreide unbedingt in ihren Besitz bringen, denn diese hinderte sie daran, sich die mächtigen Runen der Monster einzuverleiben.

Alvadee zeichnete die Gefängnisrune zu Ende und trat einen Schritt weg, um ihr Werk zu begutachten. Es sah aus wie ein Vogelkäfig, die die adeligen Damen häufig nutzten, um ihre Tiere zur Schau zu stellen. Ihre Arbeit war nicht gut, die Linie zu zittrig gezeichnet und generell hätte Alvadee sauberer arbeiten können. Doch es würde reichen, das Monster und die Gelehrten aufzuhalten.

Die junge Frau zitterte, als sie die Kreide erneut hob. Sie wusste nicht, wie viele Kerkermeister in Mhernyk noch existierten oder ob sie die einzige war, die dieses verlorene Erbe ausführen musste. Doch sie musste die Kreide mit ihrem Leben beschützen, denn ein einziger Strich könnte dazu führen, dass alles ins Chaos stürzte. Ein einziger Strich durch die Gefängnisrune mit der Kreide und sie würde ihre Wirkung verlieren.

Die Kirche des reinen Blutes (Runen aus Fleisch und Kreide 01)Where stories live. Discover now