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Miro

Sirenen heulen in den Straßen Londons auf. Ich stehe im zwanzigsten Stock des Hotels auf dem Balkon, halte ein Glas Schnaps in der Hand und starre in die Ferne, bis zur Tower Bridge. Die Luft ist herbstlich kühl und weht mir sanft um die Ohren. Meine Gedanken kreisen einstig um Elena.
Seit wir ihre Wohnung verlassen haben, versuchen wir Sie ausfindig zu machen. Stefan und Lew telefonieren bereits seit einigen Stunden mit einem Mann, der uns vielleicht weiterhelfen kann. Er hat öfters für unsere Familie als Detektiv gearbeitet und spürt jeden Menschen auf, den er finden soll. Sogar wenn er im tiefsten Urwald wohnt. Er wird uns weiterhelfen und sie hoffentlich finden. Seit ich weiß, dass sie verschwunden ist, zweifle ich stark an Zakhars Glaubwürdigkeit. Ich traue ihm nicht, habe ich nie. Er ist keine verlässliche Quelle und schon gar kein ehrlicher Mensch. Das schreit aber nicht nach ihm. Es ist unwahrscheinlich, dass die Britin bei ihm ist. Also bei wem dann?
Die Schiebetür des Hotelzimmers öffnet sich hörbar. Lew tritt neben mich ans Geländer, legt die Unterarme darauf ab und blickt wie ich über die Stadt.
»Er wird uns helfen Elena zu finden«, murmelt er gefasst. Ich reagiere nicht, sondern nehme einen großen Zug aus dem Glas. Meine Schultern sind gestrafft und der Blick eiskalt. Lew mustert mich von der Seite.
»Geht's dir gut?«
Ich nicke.
»Klar.«
Eine glatte Lüge. »Du kannst mich nicht anlügen«, entlarvt Lew mich. Stumm tippe ich meinen Zeigefinger gegen das halbleere Glas. Die nächste Windbrise bringt die Vorhänge zum Flattern.
»Du magst Sie. Selbst wenn du mich anlügst. Ich weiß es.«
Mein bester Freund mustert mich intensiv von der Seite. Er ist schon immer der einzige gewesen, dem ich mich anvertrauen konnte. Der Einzige der meine wahren Gefühle kennt, auch ohne es auszusprechen.
»Du verstehst das nicht«, versuche ich mich rauszureden. Es hat keinen Sinn, das weiß ich. Lew schnaubt und wendet kopfschüttelnd das Gesicht ab.
»Was genau verstehe ich denn bei der Sache nicht, Miro? Du magst sie offensichtlich und sorgst dich um sie, damit liege ich doch richtig?«
Ich starre stumm auf London, denke nicht daran zu antworten.
»Nein, ganz richtig«, gestehe ich. Mein bester Freund nickt wissend.
»Wenn sie dich so mit ihrem Verschwinden verletzt, dann solltest du dich fragen, wieso.«
Ich hebe meine Augenbrauen in die Höhe.
»Was sind das für Weisheiten? Hast du was von Stefans Joint gehabt?«

Er richtet sich auf und verschränkt die Arme vor der Brust, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.
»Lenk nicht ab. Ich kenne dich schon so lange. Auch wenn du dir deiner Gefühle nicht bewusst sein willst, sehe ich, dass du verknallt bist.«
Meine Nase verlässt ein spöttisches schnauben.
»Verknallt? Ich bin Anfang dreißig, da ist man nicht mehr verknallt.«
Lew verdreht die Augen ausschweifend.
»Dann stehst du eben auf Sie.«
Tue ich. Verdammt sogar. Wenn ich auch nur an unsere Nächte denke, wird mir die Hose eng.
Lew legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Der Detektiv findet Sie schon...«
Er versucht erfolglos, meine Stimmung etwas aufzuhellen. Grummelnd knalle ich mein leeres Glas auf die Brüstung und drehe mich nach rechts zu Lew. »Wäre auch besser für ihn«, zische ich. Es soll keine Drohung sein, nur ein Hinweis. Lew weiß genau, was er zu tun hat, wenn uns der Detektiv mit lahmen Hinweisen abspeisen will. Auf meine Freunde ist Verlass, das weiß ich zu schätzen. Lew sieht mir in die Augen.
»Du kannst dich auf mich verlassen.«
Mit diesen Worten verweilt er auf dem Balkon, während ich ihm den Rücken kehre und nach drinnen gehe. Im Türrahmen kommt mir plötzlich etwas in den Sinn. Ich halte inne. Zakhar. Die Dinge, die er mir über Elenas Familie erzählt hat. Könnte da etwas dran sein? Wenn ja, dann fällt mir nur einer ein. Ihr Vater. Meine Hände ziehen sich zu Fäusten zusammen.
»Lew?«, frage ich, drehe ihm nur mein Gesicht zu.
»Lass den Detektiv Elenas Vater ausfindig machen. Ich bin mir sicher, dass er Sie hat. Er hat Sie definitiv. Dieser Mistkerl.«

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt