Kapitel 15

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Kapitel 15 || Die Frage der Vernunft

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Victoria

Nun saß ich da. Allein in einem Zimmer voller Bücher und Staub und wusste nicht was ich tun sollte. Ich war schon so lang hier. Ich hatte alles gesehen, jeden kleinsten Winkel erkundet und jedes Staubkorn mindestens drei mal inspiziert. Nichts was in diesem Haus war konnte meine betrübte, gelangweilte Stimmung bessern. Nicht einmal Liams kleine Küsse auf meine Stirn oder die Bemühung mich durch eine Tanzstunde zu beschäftigen.

Ich hatte das unangenehme Gefühl mein Körper verlor an Kraft. Mein Kopf war schwer und ich hatte Morgens nicht einmal mehr Lust aufzustehen. Mein Leben begann eintönig zu werden. Jeder Tag spielte sich gleich ab und das seit mehreren Monaten. Ich fühlte mich ausgelaugt und  als würde ich an Gewicht verlieren, obwohl dies nicht möglich war. Meine Beine fühlten sich an als wären sie aus Blei, weswegen ich kaum aus dem Bett ging. Ich hatte die Hälfte der Bücher in der riesigen Bibliothek der Villa schon durchgelesen und mein Gehirn quoll bereits vor Informationen über. Außer Morgens und Abends sah ich Liam nicht aber mich interessierte nicht einmal was er so trieb.

Ich fühlte mich als würde die Liebe für ihn immer weiter schrumpfen. Wir unterhielten uns nie, tauschten nur ein paar Küsse am Tag aus und außer seinen Aufmunterungsversuchen unternahmen wir nichts zusammen. Er merkte nicht einmal das es mir nicht sonderlich gut ging und ich langsam aber sicher die Lust am Leben verlor.

Durch die Menge an Zeit die ich allein war spielten sich in meinem Kopf die verrücktesten Szenarien ab. Immer wieder rief ich mir die schlechten Erinnerungen wach als ich die ersten paar Monate in dieser Villa gefangen war. Als ich Liam so sehr hasste und ihm nicht in die Augen sehen konnte. Ich ekelte mich nach und nach selber an. Ich hatte den Mann geküsst der meine Freunde auf grausamsten Wege ermordet hatte, mit dem Mensch geschlafen der das Blut meiner Liebsten an den Fingern kleben hatte. Ich hatte mich ihm Unterworfen weil ich Angst hatte und habe ihn mich berühren lassen. Ich lebte alles wieder auf, weinte manchen Abend wegen der blutigen Bilder in meinem Kopf, doch viel mehr durch meine eigene Dummheit mich auf einen grausamen Massenmörder eingelassen zu haben. Liam war der Mensch vor dem man von seinen Eltern immer gewarnt wurde, der Junge weswegen sich die Mutter sorgte und der Vater seine aggressive, beschützerische Seite zeigte.

Um so öfter ich darüber nach dachte um so mehr ekelte ich mich vor mir selbst und auch vor Liam. Doch eine Frage brannte mir nun schon seit mehr als zwei Wochen auf der Zunge. Hatte ich ihn je aufrichtig geliebt? Es war keine Frage der Zeit sich zu verlieben, aber auch keine Frage der Vernunft. Im Endeffekt konnte ich doch nichts dafür. Jeder verliebte sich doch mal in den oder die Falsche, da spielte Vernunft doch keine große Rolle in der Liebe oder?

Ich biss mir auf die Lippe, kaute an meinen Fingernägeln. Immer mehr zweifelte ich daran, dass Vernunft nur eine kleine Rolle spielte. Warum sollte ich vernünftig sein? Ich war jung, hatte mein ganzes Leben noch vor mir. Musste ich da an Vernunft glauben?

Ich redete mir ein, dass ich es nicht musste und doch wäre jedem normal denkendem Menschen aufgefallen, dass die Vernunft wohl doch an zu viel Bedeutung verloren hatte und sie eigentlich wichtige Entscheidungen des Lebens bestimmte. Selbst als Kind wurde mir schon eingeprägt wie wichtig die Vernunft doch eigentlich immer war.

Jim hatte früher immer den Nobelpreisträger Linus Pauling zitiert: "Wenn der Mensch so viel Vernunft hätte, wie Verstand, wäre vieles einfacher." Damals wusste ich nie was er damit meinte, doch als ich älter wurde und in die Highschool ging war es mir klar geworden.Diesen Spruch jedoch auf sich selbst zu beziehen fiel mir schwer.

Ich war ignorant. Wollte mir nicht eingestehen wie selbstsüchtig und ungerecht ich gegenüber meiner verstorbenen Freunde reagiert hatte. Ich hatte keinerlei Respekt gegenüber ihnen gezeigt. War ihnen indirekt in den Rücken gefallen und hatte sie verraten. Je mehr mir dies bewusst wurde, desto mehr merkte ich was ich für eine fürchterliche Person geworden war.

Nur weil durch das unterwerfen einer anderen Person und durch die Angst um mich selbst waren mir die anderen egal geworden. Nie hatte ich daran gedacht wie sie sich fühlen mussten wären sie noch am Leben.

Und durch diese erschütternde Erkenntnis  traf mich wie ein Schlag in die Kniekehle. Nein. Kein Schlag ins Gesicht oder den Magen. Die Kniekehle. Der Punkt, der einen zu Fall bringt wenn man nur mit ein wenig Kraft dagegen schlug. Ein Schlag der mich in die Realität zurück holte und mir zeigte wie dumm ich war. Wie bescheuert ich war dies alles hier auf mir ruhen zu lassen ohne mich zu wehren.

Er hatte mir meine Freiheit geraubt, mir meine Freunde genommen und indirekt auch meine Familie. Und als ich mir genau dies vor Augen führte merkte ich was er und auch ich für schreckliche Menschen waren.

Ich realisierte wie ich mich ihm unterworfen hatte, wie naiv ich war, wie dumm und bescheuert. Wie ich mich von seinen sanften Berühungen, von seiner weichen Haut auf meiner, von seinen liebevollen Blicken und seiner schrecklichen Vergangenheit beeinflussen lassen habe. Wie ich in tiefstes Mitleid mit ihm verfallen war. Doch all dies. Alle diese unwichtigen Dinge, hatten mich von den Tatsachen abgelenkt. Von den Morden an so vielen Menschen, dass man sie nicht an einer Hand abzählen konnte. Von der Grausamkeit die in ihm herrschte.

Der eiserne Geschmack von Blut verbreítete sich in meinem Mund und vermischte sich mit meinen salzigen Tränen, welche über meine Lippen tropften. Das Buch auf meinem Schoß hatte ich fest umklammert und auf den Seiten sah man bereits die roten verlaufenen Tropfen meines Blutes. Ein frustrierender Schrei lag mir auf der Zunge und ich kniff die Augen zusammen um ihn zu unterdrücken und auch mein Schluchzen zurückzuhalten, da ich wusste Liam würde es hören und in weniger als 30 Sekunden bei mir sein.

Die Wut in meinem Körper steigerte sich ins unermessliche und es endete damit, dass ich mich ruckartig von dem Stuhl erhob auf welchem ich gesessen hatte und das Buch in meinen Händen an die Wand schmetterte, wobei einzelne Seiten durch die Luft flogen.

Ein lauter Schrei entfloh meinen Lippen und ich ließ mich auf die Knie fallen. Mir wurde es zu viel.

"Ich wollte es nicht!" "Es tut mir leid!" "Ich liebe euch doch!" "Ich bereue es so sehr!" "Ich konnte doch nichts dafür!" "Ich hatte Angst!" "Ich habe ihn nie geliebt!"

Und genau das war der Satz als ich nach oben sah. Meine verkrampften Fäuste vor mir auf dem Boden. Ich beruhigte mich. Entspannte meine Hände. Wischte mir die Tränen aus den Augen, klärte meine Sicht. Und genau in diesem Moment sah ich die vertrauten braunen Augen. Ich sah wie er im Türrahmen stand. Mich mit versteinerte Miene musterte. Der Moment wie wir uns anstarrten während mir weiterhin still Tränen über die Wangen liefen und einen dünnen Wasserfilm auf meinem Gesicht hinterließen.

Genau da wurde mir bewusst das Vernunft eine wohl viel zu große Rolle in Entscheidungen und Taten spielte. Denn wäre ich vernünftig gewesen, hätte ich den letzten Satz niemals laut ausgesprochen. Ich hätte ihn nicht einmal geflüstert.

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Hey :) Da bin ich wieder :)

Hoffe es gefält euch und ich hoffe ihr seid mir nicht sauer, dass ich so lang nicht geschrieben habe.

Ich liebe euch :)

Elli

Human || l.p.Where stories live. Discover now