Kapitel 5

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„Nehmen Sie ihre dreckige Hand von meiner Schulter."

Frau Walker ignoriert ihre Bitte. „Nach dem Abendbrot treffen wir uns in meinem Büro. Es gibt Wichtiges zu besprechen."

Ashley befreit sich von ihrer Hand. „Fassen Sie mich nie wieder an. Haben Sie mich verstanden?" „Wir sehen uns dann nach dem Abendessen. Du weißt, was passieren wird, wenn du nicht kommst."

Ashley schluckt hörbar auf. Man sieht ihr an, dass sie weiß, was passieren würde, wenn sie nicht an dem Gespräch teilnimmt.

Das Lodern in ihren Augen erlischt, als sei es nie da gewesen. Stattdessen erkenne ich eine pechschwarze Leere in ihnen. Ihre Mundwinkel verkrampfen sich zu einer dünnen Linie.

„Gut, dass das nun geklärt ist", beschließt sie.
Frau Walker wendet sich von Ashley ab und geht zu mir hin. „Ich gehe jetzt, Stella.  Ich wünsche dir gutes Gelingen.Wenn du etwas brauchst, wende dich gerne an Ella, sie ist eine hilfsbereite Persönlichkeit."

„Ich weiß nicht so recht." „Versuche es wenigstens, ich gehe dann in mein Zimmer."
„Entspann dich Stella, ich esse schon keine Menschen", sagt Ella zu mir, bevor sie zur Tür geht, um sie zu schließen.

Mein Blick huscht  rüber zu Ashley. Das Mädchen steht aufrecht und sie schaut nach draußen. Vermutlich will sie nicht, dass man ihren Gesichtsausdruck sieht.

„Schau mich bitte nicht an Stella. Ich spüre deinen neugierigen Blick auf mir ruhen." Ihre  Stimme  löst einen Schauer in mir auf, der meinen Rücken langsam herunter rieselt. Verlegen wende ich meinen Blick von ihr ab.

Ashley Cameron

Ich hasse es, wenn ich berührt werde. Diesen Hass auf Berührung von anderen Menschen habe ich entwickelt, nachdem meine Eltern gestorben sind. Meine trockenen Augen werden etwas wässerig an der Erinnerung meiner Eltern und ich schließe diese.

Glücklicherweise hat Stella den Blick von mir abgewendet. Mein schlechtes Gewissen nagt an mir. Schlechtes Gewissen, weil ich Stella keine Beachtung mehr schenke und weil ich kühl rüber komme. Kühl zu Frau Walker und zu Stella.

Wie soll man sich anders zu denen verhalten,  wenn man selbst keine Ahnung hat, wie das geht?
„Du lässt dich von deinen Gefühlen lenken." Dies waren die Worte von Ella, die sie einmal zu mir gesagt hat, als ich mich zu sehr daneben benommen habe. Ella kennt mich. Sie kennt mich durch und durch. Niemand auf diesem Internat kennt mich so gut wie Ella selbst.

Ich schiebe mein schlechtes Gewissen beiseite. Reiß dich zusammen, Ashley. Reiß dich verdammt noch mal zusammen. Diese Worte hallen in meinem Kopf wieder. Oder willst du, dass die Leute anfangen, dich auszufragen? Denn das werden sie tun, wenn du dich verdammt noch mal nicht zusammenreißt. Flüstert meine innere Stimme mir wütend zu.

Mit einem Ruck wende ich mich von dem Fenster ab, welchem ich eben viel Aufmerksamkeit geschenkt habe. Mein Blick wandert zur Uhr oberhalb der Tür unseres Zimmers. Es gibt bald Abendessen. Ein leises Knurren geht von meinem Magen aus. Dieses Knurren sagt mir, dass  ich meinen Hintern zur Cafeteria bewegen sollte, um etwas Essbares zu mir zu nehmen.
„Ich gehe dann mal", informiere ich Ella, bevor die Tür von mir persönlich geöffnet wird. Nun schlüpfe ich nach draußen auf den Flur. Bevor ich mich in Bewegung setze, schließe ich die Tür hinter mir.

Ich gehe den langen Flur entlang und die steinige Treppe nach unten, bis ich in das untere Geschoss gelange. Das untere Geschoss ist ein riesengroßer, oval förmlicher Raum, wo sich überall an der Wand Türen befinden. Bei einer bestimmten Tür steht in geschwungener Schrift: Cafeteria. Zielstrebig steuere ich auf diese Tür zu und öffne sie.

Der Geruch von Pizza steigt mir in die Nase und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich betrete die Cafeteria und schließe die Tür. Unser Internat ist kein Labyrinth. Es besteht aus drei einfachen Etagen. Die eine ist für die Jungen bestimmt, die andere ist für die Mädchenzimmer geeignet.

Im letzten Stockwerk befinden sich zahlreiche Klassenzimmer und einige Lehrer Büros. Außerdem ist hier noch die Cafeteria auffindbar. „Hey Ash. Ich habe dich lang nicht mehr hier gesehen." Liam Kühn, empfängt mich inmitten des Raumes. „Ich hatte  keinen Hunger gehabt. Deswegen hab  ich mich hier nicht blicken lassen."

Wir stellen uns in die Schlange von verhungernden Menschen und warten, bis wir unser Essen entgegennehmen können. „Wie geht es denn Ella?" „So wie immer. Sie ist gut drauf und freut sich über jedes neue Gesicht." „Habt ihr etwa eine neue Mitbewohnerin bekommen?" „Ja, haben wir."

Seine Augen leuchten vor  Neugierde auf.
Es ist nicht zu übersehen, wie sehr er sich freut, sie kennenzulernen. Kein Wunder, dass er sich gut mit Ella versteht. Die beiden sind immer sofort aus dem Häuschen, wenn jemand zu uns an die Sunshine Akademie kommt.

„Wie ist sie so drauf?" „Sie scheint ganz ruhig zu sein. Nicht so überheblich wie du." Er verzieht sein Gesicht zu einer beleidigten Miene. Ich weiß, dass er nur so tut, als sei er beleidigt. Seine immer noch leuchtenden Augen verraten ihn nämlich.
„Du findest mich überheblich?" Bevor ich ihm darauf eine Antwort geben kann, werden wir von Charlie Who  unterbrochen. Ein jugendlicher Chinese, der nicht warten kann, bis jemand zu Ende spricht.


Stella Wittmann

Nachdem ich meinen Koffer in Ruhe ausgepackt habe, hakt sich Ella freundschaftlich bei mir unter. Wie auf Kommando spannt sich   mein Körper an und mein Lächeln brennt schmerzhaft in meinen Lachmuskeln  bei dem Versuch,  fröhlich auszusehen.

Ella, die noch immer noch bei mir eingehakt ist, ignoriert meine Körperhaltung. Na gut, wenn sie unbedingt mit mir eingehakt rumlaufen möchte, tue ich ihr den gefallen.

„Die anderen  sind bestimmt unten in der Cafeteria. Ich würde vorschlagen, dass wir dorthin gehen." „Warum nicht?" 
Ella und ich verlassen unser Zimmer.  Nach einigen Schritten sind wir in der Cafeteria angekommen.

Zielstrebig steuert Ella mit mir im Schlepptau auf eine Gruppe Jugendliche zu, die sich an einem der freien Tische niedergelassen haben. Ein hübsch aussehender Chinese erobert meine Aufmerksamkeit als erstes. Ich beobachte ihn neugierig. Seine Gesichtsform ist wie aus Holz geschnitzt. Jedes Detail seines  Gesichtes ist scharfkantig geformt. Seine schwarzen Haare wirken verstreut auf seinen kopf gepresst. Der Chinese begrüßt Ella mit einer  zynischen Grimasse.

„Wer ist diese heiße Schnitte? So etwas läuft selten über den Weg."
Will er wissen, mit seiner  unvergesslichen Augenform auf mich gerichtet.

„Das hier ist Stella Wittmann. Sie ist Austausschülerin und wird eine Weile in der Sunshine Akademie wohnen." „Es freut mich, dich  kennenzulernen, Stella", beteiligt sich nun auch der Blondhaarige an dem Gespräch. Die Augen des Blonden leuchten wie Sterne, als er sich nach meinem Heimatort erkundigt. „Ich komme aus Hamburg", antworte ich dem  Fremden Blondie gelassen.

Der Chinese macht einen Witz und alle fallen ins Gelächter. Ich schließe mich mit denen an auch wenn ich nicht weiß was genau der Witz gerade war. „Ich bin Liam Kühn", erklärt der Junge mit den blonden Haaren nebenbei.
„Setzt euch gerne zu uns. Wir haben noch exakt zwei Plätze frei." Liam zeigt auf die zwei freien Plätze. Freudig  gesellt sich Ella zu der Gruppe, während ich mir überlege, mich irgendwo anders hinzusetzen. Die sehen zwar alle ganz entspannt aus, dennoch erwacht Misstrauen in meinem Inneren.

The killer among  us  Where stories live. Discover now