Kapitel 4

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»Attitude, meine Damen«, rief Madame Rousseau durch den Saal und im Gleichklang mit meinen Kommilitoninnen hob ich mein Spielbein an, winkelte das Knie leicht und ging fließend in das streng erteilte Passé über. Bei den ermüdenden Aufwärmschritten, die tagein, tagaus den Beginn des Kurses für klassisches Ballett bildeten, drifteten meine Gedanken jedoch schnell zurück zum gestrigen Abend, den ich ausschließlich mit Reagan verbracht hatte. Die Gewissheit, dass sie vergeben war, ließ jedoch ein dumpfes Gefühl in mir zurück. Und es war nicht die Tatsache, dass sie einen Freund hatte, sondern dass dieser Freund den Namen Kian Jones trug. Mit den Gedanken irgendwo in den Wolken kopierte ich die Bewegungen der Tänzerin vor mir automatisch und merkte kaum, wie die Zeit an mir vorbeiraste, bis wir das Aufwärmtraining beendeten und in die Mitte des Saals traten, um Variationen aus klassischen Ballettstücken zu tanzen.
Diesmal war es die zweite Szene aus dem zweiten Akt von Don Quijote, der Traum der Dryaden. Da ich als Kind lieber Ballettaufführungen statt Kinderfilme verfolgt hatte, war mir die Szene bekannt. Und obwohl ich wusste, dass ich die Schritte im Kopf hatte, war ich diesmal nur halbherzig dabei.

Gefühlte Stunden später endete der Kurs und der Saal leerte sich umgehend. Als ich gerade gehen wollte, wurde ich von Madame Rousseaus Worten aufgehalten, hielt in der Bewegung inne und drehte mich zu ihr um.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich mit Ihnen noch anfangen soll«, zischte sie und ließ ihren stechenden Blick keine Sekunde von mir. »Sie verpatzen die Schritte und sind unkonzentriert.«
»Ich habe die Schritte genauso gut drauf wie jede andere Tänzerin hier auch«, feuerte ich zurück und stemmte die Hände in die Hüften. »Wieso haben Sie solch ein Problem mit mir?«
Ihr strenger Gesichtsausdruck verrutschte für den Bruchteil einer Sekunde. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet, doch sie fasste sich schneller, als ich schauen konnte, und funkelte mich an.
»Mein Problem ist Ihr gesamtes Auftreten, Miss Gilbert. Sie sind schlampig in der Ausführung, nicht bei der Sache und haben sich auch noch so verunstaltet!«, warf sie mir an den Kopf. »Ihre Mutter sagte mir bereits, dass Sie ein schwieriger Fall werden würden, und sie hatte recht.«
»Moment, was hat meine Mutter damit zu tun?«, stieß ich hervor.
»Glauben Sie wirklich, ich hätte Sie nicht erkannt?«, stellte sie die Gegenfrage und ließ Informationen ans Licht sickern, die mir längst vertraut waren, die ich jedoch bewusst zu verdrängen versucht hatte. »Als Ihre Mutter in Ihrem Alter war, studierte sie ebenfalls hier. Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, wären da nicht diese Frisur und die scheußlichen Tattoos.« Sie verzog das Gesicht, als hätte sie etwas Verdorbenes gegessen, und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wie auch immer. Ich habe mit ihr gesprochen, kurz nachdem Sie Ihr Studium hier begonnen haben. Ich war stolz, eine zweite Gilbert ausbilden zu dürfen, und war fest davon überzeugt, dass Sie in die Fußstapfen Ihrer Mutter treten würden. Doch sie hat mich vor Ihnen gewarnt und nun ist mir bewusst wieso. Sie sind körperlich und emotional nicht in der Lage, den Weg als Tänzerin zu gehen. Sie werden niemals so gut wie Ihre Mutter werden und wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie niemals den Weg bis zur Spitze schaffen.«
Die letzten Worte brüllte sie mir regelrecht hinterher, da ich mitten in ihrem vernichtenden Monolog den Rückzug angetreten hatte und nun aus dem Saal stürzte. Bis zu meiner nächsten Vorlesung blieben mir noch zwei Stunden. Zwei Stunden, in denen ich meine Mum zur Rede stellen konnte.

Wutentbrannt stiefelte ich die Treppen zum Opernhaus hinauf, wissend, dass meine Mum ab heute wieder hart trainieren und ihre Zeit fast ausschließlich auf der Bühne verbringen würde.
Ich stieß die verglasten Türen auf, trat in die angenehme Kühle des Gebäudes und lief in den Theatersaal. Den Blick fest auf die Bühne gerichtet, marschierte ich den Seitengang entlang, ignorierte die teils fragenden und teils verwirrten Blicke der anwesenden Compagniemitglieder und steuerte zielsicher auf meine Mum zu, die sich in einer abgelegenen Ecke auf der Bühne an der Ballettstange aufwärmte.
»Mum!«, rief ich aufgebracht, stieg die Treppe zur Bühne hinauf und blieb schließlich vor ihr stehen.
Sie löste in aller Seelenruhe ihr Grand Plié auf, kam elegant zurück auf die Beine und richtete ihren stechenden Blick auf mich.
»Alexis, Schätzchen, was tust du hier? Müsstest du nicht in der Uni sein?«, hakte sie mit flötender Stimme nach, doch ich spürte den altbekannten Giftpfeil, der zielsicher in meine Richtung gerichtet war.
»Wieso mischst du dich dermaßen in mein Leben und in mein Studium ein?« Ich zitterte vor Wut und konnte nicht fassen, dass sie so ruhig blieb.
»Ich bin deine Mutter. Da habe ich doch wohl das Recht zu erfahren, was in dem Leben meiner Tochter vor sich geht, nicht wahr?« Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, welches ihren Augen jedoch fernblieb, ehe sie sich mit dem Rücken zu den anderen Compagniemitgliedern drehte und umgehend ihr aufgesetztes Lächeln verlor.
»Nein, dieses Recht hast du verloren, als du mich eigenhändig aus der Familie geschmissen hast. Dich hat nicht zu interessieren, was in meinem Leben vor sich geht«, fuhr ich sie an, wich jedoch einen winzigen Schritt zurück, als sie mich mit einem Seitenblick nahezu erdolchte.
»Zügle dich, Alexis. Und sieh zu, dass du von hier verschwindest«, wies sie mich so leise zurecht, dass nur ich ihre Worte mitbekam. 
»Meine Ballettmeisterin macht mir das Leben zu Hölle. Nur deinetwegen, weil du ihr unbedingt sagen musstest, ich wäre ein schwieriger Fall. Ich bin kein Sozialprojekt, Mum, sondern deine Tochter«, fauchte ich mindestens genauso leise und ballte die Hände zu Fäusten.
»Meinetwegen«, sie wiederholte das Wort, als wäre ich urkomisch. »Du bist so dramatisch, Alexis. Das hast du von deinem Vater. Eine schreckliche Eigenschaft«, murmelte sie abwertend, während sie ihr Spielbein auflockerte, indem sie es hin und her schwingen ließ. So geschmeidig, dass ich noch wütender wurde. Vielleicht hatte ich den Hang zum Dramatischen von meinem Dad. Doch das Talent und die Leidenschaft zum Tanzen hatte ich definitiv von meiner Mum. Ein Talent, welches unter einer Lawine aus Selbstzweifeln und Unsicherheit vergaben lag, die meine Mum erst ins Rollen gebracht hatte.
»Jede andere Mutter wäre stolz, wenn ihre Tochter dieselbe Leidenschaft wie –«
»Leidenschaft? Ich merke nichts von deiner Leidenschaft, Alexis. Heute nicht und damals erst recht nicht. Madeleine und ich stehen in engem Kontakt zueinander. Ohne sie wäre ich niemals dort, wo ich nun bin. Sie erkennt, wenn jemand das Zeug zur Tänzerin hat, und es ist nicht meine Schuld, wenn sie das Talent in dir nicht sieht. Denn dann, Alexis, musst du einsehen, dass du deine Chance vertan hast, als du dich auf diesen ... diesen Verbrecher eingelassen hast«, spuckte sie aus und wandte abwertend den Blick ab. »Er hat dich in ein Loch gezogen, aus dem du bis heute nicht wieder herausgefunden hast!«
»Sie würde dieses Talent in mir erkennen, wenn du sie nicht auf deine Seite gezogen hättest. Ich habe mein Training nie schleifen lassen. Auch nicht, als ich mit Mason zusammen war«, sprach ich energisch auf sie ein. »Ich weiß, dass ich das Zeug dazu habe, mindestens genauso gut wie du zu werden!«
Meine Mum seufzte schwer auf, drehte sich zu mir und schaute mir fest in die Augen.
»Alexis, ich muss mich aufwärmen«, würgte sie mich ab, ohne auf meine vorherigen Worte einzugehen.
»Aber Mum –«
»Nichts ›aber‹«, unterbrach sie mich und unterstrich ihren knappen Tonfall mit erhobener Hand, die mir eindeutig signalisierte, dass sie nichts mehr hören wollte. »Wenn du es mit dem Tanzen wirklich ernst meinst, Alexis, dann bestehe deine Prüfungen in ein paar Monaten.«
»Dann ... dann gib mir Unterricht, Mum. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es mir egal wäre. Madame Rousseau hasst mich und –«
»Ich habe keine Zeit, dich zu unterrichten«, entgegnete sie, bevor sie ihre Knöchel abwechselnd mit kreisenden Bewegungen im Uhrzeigersinn lockerte. »Wir sind mitten in den Vorbereitungen der Tournee.«
»Mum, ich ... ich weiß, dass wir Meinungsverschiedenheiten hatten. Aber können wir dieses Kriegsbeil nicht endlich begraben? Ich bin deine Tochter. Wieso hasst du mich so?«, hakte ich verzweifelt nach und sah genau, wie sie in der Bewegung innehielt. Ihr Kopf wirbelte in meine Richtung und fast glaubte ich ehrliche Irritation in ihren grünen Augen aufblitzen zu sehen.
»Das ist Unsinn, Alexis. Ich hasse dich nicht«, sprach sie ernst aus. »Ich bin nur nicht stolz auf das, was aus dir geworden ist. Sieh dich doch an. Ich erkenne meine eigene Tochter kaum wieder.«
Sie wandte mir den Rücken zu, begann sich zu dehnen und plötzlich schien ich nur noch Luft für sie zu sein. Wie bereits die letzten drei Jahre. Eine Welle aus Wut und Enttäuschung flutete mein Inneres. Ich spürte, dass es sinnlos war, die weiße Fahne zu schwenken und zu hoffen, dass das Verhältnis zwischen meiner Mum und mir, welches zu brechen drohte, auch nur ansatzweise besser werden würde. Also machte ich wortlos kehrt, ging die kleine Treppe an der Seite der Bühne hinunter und fror in der Bewegung ein, als die klare Stimme meiner Mum überraschenderweise hinter mir ertönte.
»Dienstags und donnerstags um achtzehn Uhr bei mir, Alexis. Jede Woche, bis zu deinen Prüfungen. Wenn du zu spät kommst, wirst du auf meine Hilfe verzichten müssen.«

Habits of my Heart || LESEPROBEWhere stories live. Discover now