der Bericht

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TRIGGERWARNUNG

Mal wieder muss ich euch warnen, hier ist Selbstverletzung ein Thema.

Ich hoffe, euch gehts gut und sollte dem nicht so sein, dann ist diese Geschichte vielleicht auch nicht die richtige :/.

enjoy

PS: hat eigentlich jemand Lust, ein neues Cover zu gestalten?

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Unsere Flucht ist uns nicht gelungen. JJ wurde auf einem Überwachungsvideo erkannt. Die Polizei hat ihn in Miami am Haus abgeholt. Er ist schweigend mitgegangen. Hat sich nicht geweht, nichts getan.

Wir sind zurückgeflogen. Ich habe Stunden mit meinen Eltern gestritten. Sie konnten nicht glauben, dass sie einen Mörder selbstlos in ihre Familie aufgenommen haben. Dass ich die Frechheit besessen hatte, ihn in unser anderes Haus mitzunehmen, wissentlich seiner Taten.

Dann haben sie mich auf mein Zimmer geschickt und mir verboten, mit ihm oder seinen Freunden in Kontakt zu sein. Aber ich wäre nicht ich, wenn mir das in diesem Moment nicht vollkommen egal gewesen wäre.

JJ ist in Untersuchungshaft und die anderen daheim.

Und ich will endlich die Wahrheit wissen.

Den Weg zum Chateau finde ich mittlerweile ohne Navi oder sonst etwas. Auch wenn ich heute mit dem Fahrrad unterwegs sein muss.

Doch ich halte mitten auf dem Weg inne. Wenn ich wirklich Antworten will, sollte ich dann nicht an der Quelle suchen?

Ich drehe den Lenker und fahre wieder zurück, nur ein paar Meter, bis ich durch das vage Licht der Straßenlaterne die Einfahrt sehe.

Mich überrollt etwas Angst. Was, wenn jemand da ist?

Doch sowohl JJ als auch sein Vater sind im Gefängnis. Von Geschwistern oder einer Mutter habe ich nie etwas gehört.

Das Haus liegt still und dunkel umringt von Büschen und Schrott da. In der Ferne höre ich die Wellen rauschen, irgendwo zirpen die Grillen.

Mit meiner Handytaschenlampe sehe ich, wie in dem kleinen Schuppen ein Surfboard aufgebart ist. Wahrscheinlich hat JJ es wachsen wollen.

Mit wackligen Beinen drücke ich die Türe zum Haus auf. Sie ist nicht abgesperrt, meine Schritte knarzen auf dem alten Holzboden.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich die Türe öffne, die ich als JJs erkenne. Vor mir ist das bekannte Chaos, das man aus einem Jungenzimmer kennt, es riecht leicht nach Deo. JJ durfte nach Hause und Sachen holen, bevor sie ihn mitgenommen haben.

Seufzend lasse ich mich auf das Bett sinken. Wo soll man anfangen? Vielleicht hat er irgendwo einen Arztbrief. Kiara hat ja gesagt, er wäre krank.

Meine Ausbeute nach zwanzig Minuten ist gering. JJ hat kaum etwas hier, was auf irgendwas deuten lässt. Das einzige, was ich gefunden habe, sind ein kleines schwarzes Lederbuch, in das handschriftlich Texte geschrieben sind. Ich habe sie noch nicht angeschaut. Es sieht aus wie ein Tagebuch und das ist viel zu persönlich. Glaube ich.

Und ein Ordner. Ich habe den Ordner schnell durchgeblättert, es sind Berichte, wie aus einem Krankenhaus oder von der Polizei.

So sitze ich hier, auf der Couch im Wohnzimmer und starre beides an.

Ich traue mich nicht. Aber ich will endlich wissen, was hier los ist.

Tief einatmend nehme ich also den Ordner und schlage ihn auf der ersten Seite auf.

Es ist tatsächlich ein Krankenhausbericht. Detailliert wird beschrieben, wo die Person Hämatome, Platzwunden und Kratzer hat.

Die Person ist JJ. Der Bericht ist datiert auf den 16.05.2019. Das war dieses Jahr im Mai. Ein paar Monate her.

Ich blättere etwas hektischer die anderen durch. Die Verletzungen sind gleich denen aus dem letzten, mal schwerer, mal leichter.

Das Datum ist immer ungefähr zwei oder drei Wochen nach dem letzten, mir fällt auf, dass sich die Krankenhäuser oder Praxen immer wieder unterscheiden. Anscheinend ist JJs Vater schlau genug gewesen, nicht immer ins gleiche zu fahren, um Probleme mit dem Jugendamt aus dem Weg zu gehen.

Aber er ist immer mit ihm zum Arzt. Als hätte er es doch bereut und wollte wissen, dass JJ okay ist.

Dann fällt mir ein ungeöffneter Umschlag auf, der zwischen den Seiten herausschaut.

Adressiert an JJ, mit dem Siegel einer Klinik.

Ich drehe und wende den Brief, bis mir auffällt, dass er doch schon geöffnet wurde, nur wieder zugeklebt.

Mir wird kalt, ich ziehe ihn aus dem Umschlag und falte ihn auf.

Mit jedem Satz friere ich mehr, bis ich merke, dass ich weine. Hier sind keine Hämatome beschrieben.

Hier sind die Linien auf seinem Oberschenkel beschrieben. Und noch schlimmer, er wurde nicht von seinem Vater gebracht. Hier sei er gefunden worden, am Strand. Nicht mehr ansprechbar durch den großen Blutverlust, der von einer anderen Stelle, nicht dem Oberschenkel gekommen sei. Sondern sein linkes Handgelenk. Mir wird klar, wieso er dort immer ein Bandana trägt. Damit man die Narbe nicht sieht.

Ich lese Worte wie Suizidversuch, psychiatrische Behandlung und Panikattacken.

Was musste dieser arme Junge durchmachen? War das „nur" die Misshandlung durch seinen Vater oder noch mehr?

Ich lege den Ordner zur Seite und wische mir mit meinem Pullover über die Augen.

Blicke das schwarze Buch an.

Plötzlich höre ich ein Auto. Jemand kommt die Auffahrt hochgefahren. Panisch blicke ich mich um, man sieht, dass jemand in JJs Zimmer war.

Was, wenn er es ist? Ich habe sein Vertrauen schon wieder gebrochen. Ich beginne mich selbst zu hassen. Was habe ich nur getan? Ich greife nach den beiden Sachen und husche in sein Zimmer, will sie wieder an ihren Platz stellen, als mir das Buch in der Hektik runterfällt. Es bleibt geöffnet liegen.

„Ich kann nicht mehr atmen, ich will nicht mehr atmen, wieso hört es nicht auf? Ich bekomme diese Bilder nicht los, ich bekomme den Schmerz nicht los, ich will schreien, ich will weinen, ich will nichts fühlen, ich will nicht mehr, wieso hört es nicht auf??? Ich will tot sein, dann ist endlich alles still.

bitte...."

Ich verharre in meiner Position, als ich die krakeligen Buchstaben lese.

„Josy?"

Rafe.

What We LostWhere stories live. Discover now