Kapitel 35 / LOUISE

39 6 0
                                    

Kapitel 35 / LOUISE

Noch eine Panikattacke an diesem Tag würde sie nicht überstehen.

Louises Nerven lagen blank. Zuerst einmal die Tatsache, dass sie bei einem Kunstraub beteiligt war, dann folgte dieser Wachmann, den niemand mit einberechnet hatte und zu guter Letzt war da noch dieses Polizeiauto hinter ihnen gewesen.

,,Mir ist schlecht", gestand Louise wahrheitsgemäß.

,,Halt noch eine halbe Stunde durch", meinte Thomas nur.

,,Wenn du versuchst ein bisschen zu schlafen, dann wird es vielleicht besser", Philipp klopfte auf den Oberschenkel seines gesunden Beines.

Dankbar nahm sie das Angebot an und legte ihren Kopf auf seinen Schoß und schloss die Augen.

Philipps warme Hand strich über ihre Wange und das Gefühl der Geborgenheit überkam sie einmal mehr.

Sie redete sich ein, dass es die richtige Entscheidung war, es wieder mit ihm zu versuchen. Er tat ihr gut, lies sie besonders fühlen und war vielleicht auch sogar genau das, was sie gerade brauchte.

So ist es doch, oder?

Hierbei wollte sie sich einfach nur nicht eingestehen, dass ihr absolut alles über den Kopf stieg und sie eigentlich überhaupt keine Zeit und auch emotional gesehen so gar nicht in der Verfassung war eine Beziehung zu führen, aber sie wollte Philipp gleichzeitig auch nicht enttäuschen.

Einmal mehr wünschte sie sich all ihre Gedanken und Sorgen in eine Kammer zu sperren. Dort, wo sie sie niemals wieder finden könnte.

Es nagte an ihr, dass sie soeben ein Museum ausgeraubt hatte, damit zugesehen hatte, wie unschuldige Männer gefesselt werden und nun unbekümmert mit dem Kopf auf dem Schoß ihres Freundes lag, ohne sich an die Polizei zu wenden.

Ihr Kopf drohte zu zerbrechen. Die Stimme in ihr wiederholte wieder und wieder jene Unterredung mit ihrem Bruder in jener schicksalshaften Nacht in dem Haus ihrer Eltern.

,,Louise, woher soll ich denn wissen, weshalb dein Kopf nicht richtig tickt?", hatte ihr Bruder gesagt und dabei ganz genau gewusst, was er damit von sich gegeben hätte.

,,Mach mit und ich erzähl dir alles, was ich weiß. Mach mit und du wirst alles erfahren."

Doch was gab es denn zu erfahren? Was war die Wahrheit? Wieso um Himmelswillen hatte niemand ihr gesagt, wer sie war und wo sie wirklich als Kind war.

Was war passiert, dass sie sich an ihre Kindheit nicht mehr erinnern konnte? Was war passiert, dass sie ihre Grundschuljahre immer mit Salzwasser und scheidenden Wind assoziierte, wo sie doch eigentlich am Bodensee gewesen sein soll?

In ihrem Kopf pochte es, als wollte selbst er nicht länger mit der Tatsache beschäftigen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

Wieder einmal rief sie sich jenen Flashback in dem Taxi ins Gedächtnis, als man sie und Philipp zu Channas Blumenladen entführt hatte.

Alles wurde enger. Aus Stoff und Kunststoff wurde Metall. Metall gegen das kleine Kinderfäuste hämmerten und seit einer Ewigkeit bettelnd dagegen schlugen. Die Ungewissheit und Verzweiflung fraßen das Kind auf...

Irgendetwas war in ihrer Vergangenheit geschehen, worüber ihre Mutter nicht reden wollte und ihr Bruder nur für eine Gegenleistung.

Und sie wusste beim besten Willen nicht, was es war.

Louise richtete sich langsam auf und starrte verloren in die dunkle Nacht. Die Bäume zogen an ihr vorbei und ihre Gedanken blieben in ihrem Kopf festgehakt stehen.

,,Geht es dir wieder besser?", wollte Philipp wissen und griff nach ihrer Hand.

,,Ja, geht schon", sie wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.

Das ist nicht richtig, stellte sie nun fest, als sie in seinen Augen Wärme und aufrichtige Liebe erkennen konnte, die sie ihm niemals zurückgeben könnte.

Sie fühlte sich wie eine falsche Schlange.

,,Ich mach das Radio an", hörte sie ihren Professor sagen, als sie aus dem Fenster blickte.

Es war Jimmy Cliffs I can see clearly now und dieses Lied passte so überhaupt nicht in die äußerst angespannte Lage.

,,Look all around, there's nothing but blue skies.
Look straight ahead, there's nothing but blue skies."

Philipp lachte auf und schüttelte grinsend den Kopf. Der Himmel draußen war schwarz und wirkte nicht nur beengend, sondern auch noch furchteinflößend, fast mahnend. Und trotzdem schaffte es die Musik eine kleine sommerliche Stimmung in den Fluchtwagen zu bekommen.

,,I can see clearly now the rain is gone.
I can see all the obstacles in my way."

Sie erreichten den Mittleren-Isar-Kanal und Louise wurde von dem breiten, ja freien Grinsen, ihres Freundes förmlich angesteckt und kam nicht umhin so zu tun, als würde sie die weitere Lyrik des Liedes mitsingen.

,,Here is that rainbow I've been praying for.
It's gonna be a bright, bright
Bright, bright sunshiny day."

Das Outro des Liedes spielte und Louise blickte statt aus ihrem Fenster wieder durch die Windschutzscheibe. Das Scheinwerferlicht zweier Autos strahlten ihr auf einmal entgegen und eines davon befand sie auf ihrer Fahrbahn, da es zum Überholen angesetzt hatte, obwohl das Fluchtauto bereits erschreckend nach war.

,,SCHEIßE!", fluchte der Professor verzweifelt.

Die Scheinwerfer des Sportwagens wurden immer heller. Sie bissen sich in Louises Nervenhaut und ihr wurde klar, dass sie diesen Moment niemals wieder vergessen könnte.

Niemals würde sie das Quietschen der Reifen vergessen, als ihr Professor verzweifelt versuchte, einen Frontalaufprall zu vermeiden. Dabei musste er aber gegen die Blanken fahren.

Ein lauter Rumps, dann wurde alles für eine Millisekunde still, bis die Grenzen der Brücke nachgeben und das Auto mit seinen Insassen in die Tiefe stürzte.

Noch im freien Fall, griff Philipp Louises Hand, die laut schrie und kurz darauf verstummte, als das Auto mit der rechten Seite zuerst auf das Wasser krachte.

Eine übernatürliche Kraft zerrte an ihr und wirbelte sie herum. Alles wurde schwarz. Sie spürte nichts mehr. Spürte keinen Gurt mehr und keinen Philipp mehr. Sie war vom kalten Wasser umhüllt. Ihr Herzschlag setzte aus und für einen Moment glaubte Louise zu sterben.

Aber sie konnte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Sie öffnete die Augen. Blasen schwirrten um sie herum und das Wasser war so düster, dass sie nur anhand des Mondes die Wasseroberfläche ausmachen konnte.

Die Studentin bemerkte, dass ihr langsam die Luft ausging und sie sich lieber beeilen sollte nach oben zu kommen. Louise sammelte ihre letzten Kräfte und schlug mit ihren Armen nach hinten. Ihr Beine gaben ihr Antrieb.

Obwohl sie eine ausgezeichnete Schwimmerin war, kam es Louise wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ihre Fingerspitzen die eiskalte Nachtluft spürten und durch ihre Nase sowie ihren Mund frische Luft drang. Ihre Lungen füllten sich mit Leben.

Louise wischte sich das Wasser aus dem Sichtfeld und drehte sich hastig zu dem abgestürzten Van um. Ihr schien die Kälte nichts mehr auszumachen.

Ihre Augen wurden groß. Der Aufprall auf die harte Wasseroberfläche hatte dazu geführt, dass das Auto in zwei Stücke gebrochen war.

Sie schluckte heftig. Das Fahrzeug war auf Philipps Seite auf das Wasser gefallen. Nur der Professor und sie hatten auf der linken Seite gesessen.

Ein Geschwür breitete sich in ihrem Inneren aus, schlang sich um Magen und Niere wie eine Schlange und zerquetschte ihre Organe. Louise wurde ganz schlecht.

,,Philipp!", murmelte sie und wollte schon zurück zum Fahrzeug schwimmen, als jemand von hinten ihre Schulter packte und sie zu sich zog.

VATERTAGWhere stories live. Discover now