KAPITEL 8: Fragen und Antworten

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Freya konnte kein Auge zu tun. Sie hatte stundenlang sämtliche Artikel gelesen und Beiträge geschaut, die sie online zum Winter Soldier finden konnte. Das Ganze hatte ihr bloss schreckliche Kopfschmerzen beschert. Sie hatte zwei Bilder im Kopf, die einfach nicht zusammenpassten.
           Einerseits war da James, ihr Nachbar; irgendwie mysteriös und manchmal sogar etwas schräg, aber immer höflich, nett. Er hatte ihr mit der Wäsche geholfen, ihren Tannenbaum getragen, an ihrem Tisch gesessen und zum ersten Mal Gumbo gekostet. Keine Sekunde lang hatte sie sich bei ihm nicht sicher gefühlt. Das war der James, den sie am Vorabend geküsst hatte. Der Mensch, in den sie sich gerade Hals über Kopf verliebte.
           Und auf der anderen Seite war da der Winter Soldier. Ein Superkiller der dutzende Menschen getötet hatte. Ein feindlicher Soldat ohne Gewissen, Gefühle und Reue. Ein Mörder, Betrüger, Lügner, älter als ihre Großeltern. James und er konnten nicht dieselbe Person sein.
            Doch da war die Sache mit seiner Prothese. Noch vor wenigen Tagen hatte sie diese als Wunder der Technik bestaunt. Nun glich sie einem Todesurteil. Selbst wenn sich die äußerliche Ähnlichkeit erklären ließe, der kybernetische Arm war nicht zu leugnen. Er war es, alle Fakten deuteten darauf hin. Und trotzdem konnte sie es kaum nicht glauben. Wie konnte dieser Mensch, der von den Medien zeitweise als gefährlichster Mann der Welt dargestellt wurde, in ihrer Küche sitzen und in aller Ruhe Kekse verzieren?
           Kompartimentierung, ging es ihr durch den Kopf. Die Tagebücher ihres Großvaters hatten davon gesprochen. Eine Technik, die es ihm erlaubt hatte unter dem Tag in die dunkelsten Abgründe der Menschheit zu schauen und trotzdem am Abend als liebevoller Vater nach Hause zurückzukehren. War es das, was James getan hatte? Den Tag durch skrupelloser Killer, am Abend der nette Nachbar von nebenan? Freyas Magen drehte sich um und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Bad.
           Als sie sich etwas später wieder zurück ins Schlafzimmer traute, sah sie Licht auf der anderen Seite des Innenhofes. Er war zu Hause. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Die Antworten auf all ihre Fragen waren in greifbarer Nähe. Doch genauso war ihr potenzieller Tod. Freya fehlte der Mut herauszufinden, welches von beiden es sein würde. Ohne weiter darüber nachzudenken, buchte sie ein Ticket für den nächsten Flug nach New Orleans.

Nach einer unruhigen und von Albträumen geplagten Nacht, kroch Freya am nächsten Morgen in aller früh aus ihrem Bett. Eigentlich hatte sie nachsehen wollen, ob der Redaktor sich schon zurückgemeldet hatte. Doch ihr fehlte die Kraft ihren Laptop auch nur aufzuklappen. So packte sie das Nötigste zusammen, um rechtzeitig zum Flughafen zu kommen, als es plötzlich an der Tür klingelte.
           Freyas Brust schnürte sich zu, ihre Finger begannen zu zittern. Ist das eine Panikattacke? Nein, noch hatte sie sich im Griff. Wenn er wirklich der Winter Soldier ist, wird die Tür ihn nicht aufhalten. Wenn sie öffnete, würde sie wenigstens noch ein paar Antworten herausholen können, bevor... Daran wollte sie gar nicht erst denken.
           James hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen als sie die Tür öffnete. Noch vor zwei Tagen, hätte Freya dies innerlich Sprünge machen lassen. Nun war es nur ein weiterer Trick, eine neue Lüge. Ihre Wut wuchs und nun, da sie ihm gegenüberstand, kam auch ihr Mut auf einen Schlag zurück. Die erhofften Antworten schienen plötzlich bedeutungslos.
           «Lügner!», warf sie ihm an den Kopf.
           Seine Gesichtszüge entglitten ihm und er wich einen Schritt zurück. Einen Sekundenbruchteil lang war sein Ausdruck komplett leer. Doch dann flutete die Erkenntnis seine Züge. «Freya...»
           Er streckte eine Hand nach ihr aus.
           «Fass mich nicht an! Ich will nichts hören. Du hast mich angelogen! Du hättest es mir sagen müssen. Ich habe das Recht zu wissen, wenn der Mensch, in den ich mich gerade verliebe, ein Massenmörder ist!»
           «Freya bitte, lass mich erklären.»
           «Nein. Geh weg. Bleib weg! Ich will dich nie mehr sehen.» Sie schlug die Tür zu. Mit wenigen schnellen Schritten hatte sie ihre Wohnung durchquert und die Reisetasche geschultert. Sie hatte nicht mal mehr drei Stunden. Es würde enorm knapp werden. Aber sie hielt es keine Sekunde länger hier aus.

Ich wohne nebenan - eine Bucky Barnes-FF [Rewrite]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt