𝟽 - 𝚂𝚘𝚗𝚗𝚎𝚗𝚋𝚕𝚞𝚖𝚎

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Der Weg in Richtung Zuhause kam mir viel länger vor als, als der Weg in Richtung Klinik. Das mochte wohl an meiner Ungeduld, endlich wieder in meinem eigenen Bett schlafen zu können, liegen. Aber hatte ich mich auf dem Weg in die umgekehrte Richtung noch davor gewehrt, eben in jene Klinik zu müssen, hatte die Notwendigkeit in Frage gestellt, die Notwendigkeit, ob ich in eine Geschlossene musste, wenn ich mir noch ein paar Stunden zuvor durch einen gezielten Schnitt an meinem linken Unterarm versucht hatte das Leben zu nehmen, und ich nur durch Zufall gerade rechtzeitig von meinem Vater entdeckt worden war, wollte sich mir damals nicht erschließen, umso froher war ich nun, diesen Weg bestritten zu haben.

"Mir geht es gut!", hatte ich geschrien, immer wieder wiederholt, es zu einem Mantra werden lassen, bis ich es selbst geglaubt hatte. Nur meine Eltern hatten an diesem Satz gezweifelt. Nein, jeder außer mir hätte daran gezweifelt.

Dabei war es mehr als offensichtlich, dass ich Hilfe benötigt hatte. Nicht nur, dass mein linker Arm mit einem dicken Verband verbunden gewesen war, auch hatte ich weder Kraft zu laufen, noch aufrecht zu sitzen. Einzig und alleine der Anschnallgurt und meine Mutter hatten mich aufrecht gehalten, sonst wäre ich sicherlich seitlich auf die freien Sitze gekippt. Nur zum Heulen, Schreien und Schlagen nach meiner Mutter, damit sie mich endlich loslassen würde, hatte ich noch Energie übrig gehabt.

Jetzt kritzelte ich die Fahrt über in meinem Block herum, der auf meinen Knien lag und bei jeder Kurve oder Unebenheit ungeplant unter der Miene meines Bleistiftes hin und her rutschte. Dennoch brachte ich eine einigermaßen akzeptable Zeichnung von unserem Haus zu Stande. 

Endlich hatten wir den mir so bekannten und vertrauten Vorgarten erreicht. Das Auto bremste und kam auf dem Bürgersteig davor zum Stehen. Nun konnte ich durch die Fenster des Autos unser Haus nicht mehr nur auf dem Papier und in grau sehen, sondern in echt und bunt.

"So, da wären wir", verkündete mein Vater, so wie er es fast immer tat und zog den Autoschlüssel, um auszusteigen. Meine Mutter tat es ihm sofort gleich. Ich hingegen blieb noch sitzen und genoss das Glücksgefühl, was mich durchflutete, wieder hier zu sein. Als würde mich der eher wenig gepflegte Garten faszinieren, starrte ich auf die Rasenfläche. Erst nachdem mein Vater die Autotür geöffnet hatte, erwachte ich aus meiner Trance.

"Magst du aussteigen?", fragte er lächelnd und reichte mir seine Hand, um mich, sobald ich sie ergriffen hatte, aus dem Auto zu ziehen. Strahlend stand ich vor ihm und lächelte zurück.

"Bist du gewachsen?", fragte er plötzlich und sah an mir herunter.

"Körperlich, nein. Seelisch, ja", antwortete ich unwillkürlich, hatte mir diesen Satz nie zurechtgelegt und doch erschien er mir fast schon zu poetisch. Mein Vater wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte, also schob er mich nur sanft einen Schritt näher zum Gehweg über die Wiese hin zur Haustür, da ich schon wieder zögerte. Es kostete mich mehr Stärke, als ich erwartete hatte, meine Schritte die Treppe zur Haustür hinauf zu lenken und in den Flur einzutreten. Hinter mir klackte das Schloss der Tür. Er hatte sie hinter uns zugezogen.

Der Fußabtreter unter meinen Stiefel begrüßte mich so wie jedes Mal. Ein Duft nach Mamas Lasagne zog mir in die Nase. Wie ich diesen Geruch liebte! Er war so viel besser, als der sterile nach Desinfektionsmittel riechende Gestank, den ich die letzte Zeit unausweichlich in der Nase gehabt hatte. Hier war alles wie immer und doch war ich seit einem Monat nicht mehr hier gewesen, wodurch mir manches seltsam fremd erschien. So fehl am Platz hatte ich mich doch auch nicht nach unserem vierwöchigen Sommerurlaub vor ein paar Jahren gefühlt. Wieso dann jetzt?

Vielleicht, weil ich immer noch den Gedanken im Kopf hatte, meine Eltern hätten mich von sich gestoßen, weil sie nicht mehr mit mir klar kommen würden. Dabei war das erste, was Frau Channell mir beigebracht hatte: "Deine Eltern wollten dich nicht loswerden, weil du ihnen zu kompliziert bist. Sie wollen dir helfen und da sie das nicht konnten, habe sie dich zu uns geschickt. Das hat sie einiges an Überwindung gekostet, sich eingestehen zu müssen, seiner eigenen Tochter nicht mehr eigenständig helfen zu können", hatte sie ernst gesagt. Sie, eine Frau von vielleicht vierzig Jahren mit ihren schwarzen Haare, die ihr bis knapp auf die Schultern fielen, hatte mich streng angesehen. Dadurch hatte ich automatisch Respekt vor ihr gehabt und nicht gewagt, zu widersprechen.

Heute war ich froh, ihre Worte einfach so stehen gelassen zu haben, denn sie hatte Recht gehabt. Nicht meine Eltern taten mir Unrecht, sondern ich ihnen, wenn ich ihnen dies unterstellte.

Ohne meine Schuhe oder meine Jacke auszuziehen, stieg ich die Treppe hinauf, kaum wissend, was ich vorhatte. Sobald meine Finger die Tür zum Badezimmer aufstießen, wusste ich, was ich wollte, wusste, wonach ich suchte; nach dem Ort, an dem ich versucht hatte, mir das Leben zu nehmen, mich aus dem Leben zu schneiden. Und es zum Glück nicht geschafft hatte.

Die Tür schwang beiseite und gab mir den Blick auf die Fliesen, das Waschbecken und den Spiegel frei. Auf den Fliesen war kein Blut, das sich sicherlich dort befunden hatte. Im Waschbecken schwamm kein Blut-Wasser-Gemisch und im Spiegel zeigte sich mir kein müdes, verbrauchtes Mädchen, sondern eine beinahe erwachse Frau, die in dem letzten Monat ihr Leben wenigstens ansatzweise wieder in den Griff bekommen hatte. Ich nickte meinem Spiegelbild zu, als wollte ich meine Gedanken bestätigen.

Schritte näherten sich dem Badezimmer. Dann erblickte ich auch meine Eltern im Spiegel, die hinter mir im Türrahmen standen. Ich lächelte ihnen durch den Spiegel an, was sie zu überraschen schien.

"Ich werde jetzt ein Bild für Herrn Köster zeichnen gehen", verkündete ich, während ich mich umdrehte, um ihnen wirklich ins Gesicht lächeln zu können. Noch verwirrter über meine Aussage nickten sie und ließen mich vorbei. "Gute Nacht", sagte ich noch und verließ das Badezimmer, meine überforderten Eltern zurücklassend, die sich nur fragend ansahen.

Mein Bett war ordentlich gemacht und frisch bezogen worden. Sonst war alles wie vor einem Monat. Selbst mein Schulranzen, wie ich den Rucksack nannte, war noch für meinen letzten Schultag gepackt, an dem ich mich endgültig verloren hatte. So zog ich die Skizze des Drachen und die verblühte Rose aus meinem Schulzeichenblock und erinnerte mich an die Worte meines Lehrers über meine Rose und seine Aufgabe, ein neues Bild zu malen. Genau das hatte ich jetzt vor.

Nie wieder, so kam es mir vor, würde ich wieder so ein Glücksgefühl erleben, wie in diesem Moment, wo ich wieder zu Hause war, gesünder und viel stärker. Gesünder und viel stärker sollte auch meine Blume aussehen, an die mich machte sie aus meinem Kopf auf das Papier vor mir und unter meinem Bleistift, Stärke F, zu bringen. Der erste Strich brauchte seine Zeit, doch schon der zweite lief mir lockerer aus dem Handgelenk.

Während ich so in der Stille meines Zimmers saß und eine Blume zeichnete, die sich überraschender Weise schnell als Sonnenblume herausstellte, dachte ich an Jimmy, der ebenfalls eine Sonnenblume gezeichnet hatte. Erst jetzt, wo ich gedanklich sein Bild studierte, fiel mir seine Begabung auf, seine Blume gesund und stark wirken zu lassen. So wie er es war.

Meine Sonnenblume war zwar gut gewachsen, blühte auch, aber schien bei weitem noch nicht die Energie seiner Blume zu haben. Trotzdem war ich schlussendlich recht stolz auf die Bleistiftskizze. Farbe, hatte Herr Köster erwähnt, würde schon Wunder wirken. Nickend kramte ich nach meiner Aquarellfarbe und füllte meinen Wassertankpinsel mit Wasser. Dann legte ich los und sparte nicht an Farbe, eher an dem Wasser.

Eine strahlend gelbe Sonnenblume präsentierte mir schlussendlich ihre Blütenblätter. Ein Stück weit stolz betrachtete ich sie. Künstlerisch hatte ich schon besseres vollbracht, aber von der Bedeutung her, war es mein aussagekräftigstes Bild überhaupt. Zuversichtlich, Herr Köster würde das Bild annehmen, steckte ich es zwischen zwei noch völlig unbeschriebene Blätter meines Zeichenblocks, um es vor Eselsohren zu schützen. Morgen schon würde ich es ihm geben können.

So wurde es der erste Sonntag, an dem ich mich wirklich auf den morgigen Montag freute. 

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𝚂𝚞𝚗𝚏𝚕𝚘𝚠𝚎𝚛 𝙺𝚒𝚜𝚜𝚎𝚜Où les histoires vivent. Découvrez maintenant