Kapitel 2

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Ich war eingeschlafen. Diese Erkenntnis kam mir, noch bevor ich mich bewegt oder die Augen geöffnet hatte. Mir war kalt, und das warme Sonnenlicht, das zuvor selbst durch meine geschlossenen Augenlider noch hindurchgeschimmert hatte, war verschwunden. Ich blinzelte und schlug die Augen halb auf. Irgendetwas war merkwürdig. Ich fühlte mich beobachtet, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, von wem. Es war noch hell, aber die Sonne war weitergewandert und drauf und dran, hinter den Baumwipfeln zu verschwinden. Meine Finger zuckten. Steif umklammerten sie noch immer das Buch und ich musste mich darauf konzentrieren, jeden Finger einzeln zu lösen, um es beiseiteschieben und mich aufrichten zu können. Mit einer Hand auf dem Boden stütze ich mich ab und setzte mich auf.

Dann blieb mein Herz stehen.

Kaum fünf Meter von mir entfernt saß, völlig regungslos, der größte Wolf, den ich je gesehen hatte. Größer als jeder Löwe oder Tiger, doppelt so groß wie ich, starrte er mich ebenso schockiert an, wie ich ihn. Eine Sekunde lang rührte keiner von uns auch nur einen Muskel. Dann geschahen mehrere Dinge auf einmal. Ein Wind kam auf, zerrte meine Haare nach vorn und blies dem Wolf ins Gesicht. Ich schnappte nach Luft und mein Herz begann wieder zu schlagen, diesmal so schnell, als müsse es viele Stunden aufholen, und nicht nur eine Sekunde. Der Wolf sprang auf, machte einen Satz rückwärts und gab einen kehligen Laut von sich, irgendwo zwischen einem Jaulen und einem Knurren. Es klang wie Überraschung. Stehend war er noch größer als ich im ersten Moment gedacht hatte. Er überragte mich so einschüchternd wie eine Naturgewalt einem im Gras sitzenden Kind gegenüber. Und auch wenn meine Gedanken sich wie gelähmt anfühlten, realisierte ich wie nebenbei, das absolut nichts so war, wie es sein sollte.

Alles erschien mir unreal. So große Wölfe gab es nicht. Und wenn es sie gegeben hätte, warum griff er mich nicht an? Oder lief davon, wenn Menschen nicht auf seinem Speiseplan standen? Warum fühlte ich, außer meiner körperlichen Schockreaktion, keine Angst? Warum sah der Wolf mich an und warum war ich mir sicher, absolut sicher, dass auch er weder Angst noch Aggressivität spürte? Seine großen braunen Augen spiegelten meine – Überraschung, Faszination, Unsicherheit – mehr nicht. Völlig unmöglich. Ich träume, war der erste bewusste Gedanke, den ich in meinem Kopf ausformulierte. Ich träume. Eine andere Erklärung gibt es nicht. 

Wir waren beide wieder erstarrt, ich im Sitzen und er im Stehen und keiner von uns schien zu wissen, was wir jetzt tun sollten. Meine Herzfrequenz wurde langsam wieder normal und je mehr sich mein logisches Denken einschaltete, umso mehr war ich überzeugt, dass ich träumte. Gut, eigentlich waren meine Träume noch nie so kreativ gewesen, und so real hatten sie sich auch nie angefühlt, aber vielleicht lag das ja nur daran, dass ich mich danach nicht erinnerte. Vielleicht würde ich mich später auch an diesen nicht erinnern. Aus irgendeinem Grund machte mich der Gedanke traurig. Ein schöner Traum, falls er nicht doch darin enden sollte, dass ich gefressen wurde. Aber ich war mittlerweile davon überzeugt, dass das nicht der Fall war. 

Auch in der Abenddämmerung, die langsam einsetzte, war die Lichtung wunderschön. Eigentlich erschien sie mir sogar noch magischer, als im Sonnenschein. Und das riesige Tier, das mir gegenüberstand, passte hierher. Plötzlich erschien mir das alles gar nicht mehr so merkwürdig. Ein magische Begegnung an einem magischen Ort. Genau so sollen Träume doch sein.

Ich lächelte. Der Wolf zuckte unmerklich zusammen. Eine unerwartete Ruhe überkam mich. Ich wollte diesen Traum genießen. 

„Hallo", sagte ich leise. Diesmal zuckte der Wolf ganz eindeutig zusammen. „Hab keine Angst", flüsterte ich weiter. „Ich tu dir nichts." Ein winzig kleiner Teil meines Gehirns realisierte spöttisch, wie unglaublich schwachsinnig diese Worte klangen. Als ob ich in der Lage gewesen wäre, dem Wolf auch nur ein Haar zu krümmen bevor er mich verschlungen hätte wie eine besonders dumme Version von Rotkäppchen. Der Wolf schien das auch zu denken, denn in seinem Blick glaubte ich neben seiner Überraschung etwas von dem gleichen Spott zu entdecken. Er machte einen Schritt rückwärts, schien mir aber zu fasziniert und neugierig, um tatsächlich davonzulaufen. Er war genauso gefesselt wie ich.

Ich fragte mich, ob ich zu viel in diese seltsam ausdrucksstarken Augen hinein interpretierte. Langsam, um ihn nicht mehr zu erschrecken als notwendig, stand ich auf und streckte ihm eine Hand entgegen. Der intelligentere Teil meines Gehirns schlug die imaginäre Hand vor die Stirn. Wenn das kein Traum ist, bist du geliefert, sagte er. Ich schob den Gedanken beiseite. Natürlich war das ein Traum. Was auch sonst? Außerdem wäre ich sonst sicher längst tot.

Der Wolf starrte meine Hand an als könnte er nicht glauben, was er da sah. Dann sah er mir ins Gesicht und sein Blick schien an meiner geistigen Gesundheit zu zweifeln. Okay, ich interpretierte eindeutig zu viel. Es war immer noch ein Wolf. Er bewegte sich keinen Zentimeter auf mich zu und nach einer Weile lies ich die Hand wieder sinken und fühlte mich immer mehr wie eine Idiotin. Hey, dachte ich beleidigt. So war das nicht abgemacht. Wenn ich schon sowas Cooles träume, dann bitte das ganze Paket. 

„Also...", sagte ich unsicher, „was möchtest du denn von mir?" Da endlich, nach einem weiteren ungläubigen Blick, bewegte sich der Wolf. Er drehte sich um und ging davon. Was zum Teufel? „Hey, warte", rief ich empört. „Bleib gefälligst hier! War das etwa alles?"

 Ich hatte die Kreativität meines Traums wohl überschätzt. Etwas mehr als einen Anstarrwettbewerb hatte ich schon erwartet. Der Wolf blieb stehen und drehte sich langsam wieder zu mir um.

Okay ja, das war eindeutig ein ungläubiger Blick. Interpretation hin oder her, seine Gedanken standen ihm ins Gesicht geschrieben: „Die hat sie nicht mehr alle."  Wenn das kein Traum wäre, würde ich ihm zustimmen. Komisch, dass er das nicht wusste.

Er sah mich an und hätte er sprechen können, hätte er mich mit Sicherheit gefragt, was ich eigentlich von ihm wollte. Gute Frage. Am liebsten hätte ich ihn einmal angefasst. Sein dickes Fell sah unglaublich weich aus und sein Körper strahlte eine atemberaubend majestätische Aura aus. Der ganze Körper, außer seinen Augen. Die sahen mich immer noch fragend, und offenbar an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifelnd, an. 

Wie auch immer. Scheinbar wollte er nicht angefasst werden. Schade, aber gehen lassen wollte ich ihn trotzdem nicht. Ich war überzeugt, dass ich aufwachen würde, wenn er ging. Und dann müsste ich nach Hause gehen und Maria gegenübertreten, und vielleicht sogar meinem Vater, wenn er von seinem heutigen Geschäftsessen heimkam. Ein Knoten aus Angst zog meinen Magen unangenehm zusammen. Noch nicht. Bitte noch nicht.

„Bleib", sagte ich leise. „Bitte bleib noch ein bisschen." Ich wusste, dass er mich verstand. Um ihm zu zeigen, dass ich nicht versuchen würde, ihn zu berühren, setzte ich mich wieder hin und nahm mein Buch auf den Schoß. „Kennst du Der geheime Garten?", fragte ich ihn. War ich in meinen Träumen eigentlich immer so dämlich? Er war ein Wolf. Nein, kannte er nicht. „Bleib hier, ich les dir vor. Du kannst mir Gesellschaft leisten."

Ein paar Sekunden lang starrte er mich einfach nur an. Dann schüttelte er kurz den Kopf hin und her, kam mit einem gottergebenen Jaulen ein paar Schritte auf mich zu, legte sich ins Gras und ich begann, zu lesen. 

Can you see my faceWhere stories live. Discover now