Singsang

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„Schon morgen ist der Auftritt beim Konzert in Rom", sagte Ben. „Wir müssten dann früh mit der Bahn aufbrechen. Schließlich passen wir schlecht zu sechst in euer Auto rein, und mitnehmen tut uns bestimmt niemand, nicht wenn wir so viele sind."

„Also lassen wir dann den BMW hier stehen?", fragte Lennox. Ben nickte.

„Was sollen wir sonst mit ihm machen? Wenn der Schlüssel steckt, kann ihn irgendjemand mitnehmen und ist glücklich damit." Alea übersetzte für Siska, denn es war ja „ihr" Auto, und vielleicht hatte sie etwas anderes damit vor – was auch immer das sein sollte. Doch Siska nickte, was Ben zum nächsten Thema brachte.

„Für die Tickets brauchen wir eine Menge Geld. Lennox kann umsonst fahren, dann bräuchten wir nur fünf." Er schaute Alea an, als sollte sie jetzt auf keinen Fall widersprechen. Deshalb beließ sie es bei einem Grummeln.

„Onkel Oskar hat uns zweihundert Euro geschickt, und den Rest kratzen wir mit unserem Auftritt zusammen. Dann sollten die Kosten eigentlich gedeckt sein."

„Und wann spielen wir?", fragte Tess.

„Ich würde sagen: jetzt gleich", sagte Ben. „Es gibt hier einen Platz, bei dem viele Leute sind. Da sollten wir vorspielen. Sammy?" Sein Bruder, der bis jetzt zwei Bänke weiter auf der Panflöte Anker im Sturm und Wenn das Wasser ruft geübt hatte, blickte auf und ging zu ihnen.

„Wie gut kannst du die Stücke?", wollte Ben wissen.

„Sehr." Sammy strahlte in die Runde. „Spielen wir jetzt, oder was?"

Sie liefen am Wasser entlang, bis der Weg breiter wurde. Lennox packte seine Gitarre aus, Tess blies ein paarmal probeweise in ihre Mundharmonika und Alea und die anderen positionierten sich so hin, dass die vorbeikommenden Leute alle gut sehen konnten. Siska lehnte sich an die nächste Hauswand und konnte ihnen nur zusehen. „Erst mal Fünf, und alle singen an jeder Stelle." Lennox legte seinen Gitarrenkoffer geöffnet vor ihnen hin und Ben gab den Takt vor. Als Alea dann anfing mit den anderen zu singen, fand sie, dass es gar nicht so schlecht klang. Lennox spielte fantastisch wie immer und Tess' Mundharmonika passte gut zu ihrem Gesang. Ein paar Leute blieben stehen und hörten eine Weile lang zu, doch die meisten liefen weiter, sodass nur selten eine Münze im Gitarrenkoffer landete.

Nachdem das erste Lied vorbei war, zählte Sammy das Geld. „Nur drei Euro fünfzig", sagte er enttäuscht. „Jetzt müssen wir eben alles geben!" Schon zückte er seine Flöte und begann die ersten Töne von Wenn das Wasser ruft zu blasen.

Tatsächlich blieben mit dem weiteren Instrument ein paar mehr Menschen stehen, doch es war Sammy deutlich anzuhören, dass er kein Meister war. Er verspielte sich mindestens sechs mal. Sie spielten noch Anker im Sturm und einen bekannten englischen Popsong. Schließlich hatten sie ein paar mehr Münzen und sogar noch einzelne Scheine verdient. „Die Leute hier sind echt zäh", murmelte Alea frustriert, als sie in den Gitarrenkoffer blickte. Die Summe war okay, aber mehr hatte sie sich insgeheim schon erhofft. Reichte das, um bis nach Rom zu kommen?

„Noch ein Lied", beharrte Lennox. „Wir könnten Zu dir spielen." Unwillkürlich musste Alea an Thea denken. Sie und Tess hatten es für ihre Schwester geschrieben, und es hatte so einige Missverständnisse als Folge gehabt. Und nun war Thea nach dem lang ersehnten Treffen mit Lennox und Alea wieder von Doktor Orion gefangen genommen worden. Sie war entfernter denn je von der Alpha Cru.

„Also gut, noch dieses Lied", sagte Ben. „Aber die Reggae-Version, ja? So hoch komm ich gerade noch." Alea musste ein bisschen grinsen und begann die ersten Töne des Lieds mitzusummen. Sie schaute fast nur zu Lennox, und das nicht nur, damit die Leute ihn überhaupt wahrnahmen. Lennox war das stärkste, das sie mit dem Treffen ihrer Schwester verband. Er und Alea hatten dieses Abenteuer zusammen überstanden, und Lennox schien dasselbe zu denken. Auch er lächelte die ganze Zeit zu ihr. Und dann war das letzte Lied zu Ende.

Nur zwei Personen klatschten und zückten ihre Portemonnaies, und der Rest gab Teilweise 1-Euro-Stücke her. Aber allemal besser als gar nichts.

„Das reicht locker für eine pompöse Gondelfahrt quer durch Venedig!", fand Sammy, als er das Geld zählte.

„Jetzt übertreib mal nicht. So was kostet bestimmt viel." Tess nahm ihm die Münzen ab, hob den Gitarrenkoffer auf und gab ihn Lennox.

„Aber dafür lohnt es sich umso mehr, findest du nicht auch, Bruderherz?" Ben seufzte.

„Eine lange Gondelfahrt quer durch die Stadt kostet pro Person mindestens dreißig Euro. Das ist viel zu viel. Allerdings kann man zwei, drei Minuten für viel weniger fahren."

„Zwei, drei Minuten?!" Sammy zog eine entsetzte Grimasse. „Grmpf, und dafür soll man nach Venedig kommen? Wegen einer kurzen Spritztour, die dann auch noch was kostet?" Alea konnte förmlich hören, wie es kurz darauf in seinem Kopf ratterte. „Ich hab eine Idee", sagte er dann schließlich. „Wir gondeln die paar Meter, und dafür kaufen wir uns noch wunderbare Strohhüte! Die werden hier bestimmt in jedem Laden angeboten. Für einen Spottpreis!" Ben gab sich geschlagen.

„Also gut. Aber Sammy, das Geld ist wirklich knapp, und wir wollten eigentlich ja auch noch Vorräte einkaufen. Deshalb können wir nicht alle fahren."

„Das macht nichts", klinkte sich Alea ein. Bei der Silberfadenvision hatte sie nur die beiden Brüder auf der Gondel gesehen. Diese Zukunft war zwar nicht auf Stein gemeißelt, aber ziemlich wahrscheinlich. „Ihr zwei könnt eine Runde fahren und wir gehen in der Zwischenzeit einkaufen."

„Ist denn das auch okay für euch?", fragte Ben Lennox, Tess und Siska. Alle drei waren einverstanden. Und so war es abgemacht. Während Ben und Sammy einen Strohhutverkaufsladen suchten, klapperten sie die Einkaufsliste im nächstgelegenden Supermarkt ab. Das war gar nicht so einfach, weil alles auf Italienisch dastand, aber Lennox konnte bei den Käsesorten eine Frau in Englisch fragen, welcher der Käse weich war und welcher hart, sodass sie später mit einer vollen Einkaufstasche aus dem Geschäft kamen. Dort sah Alea Ben und Sammy mit Strohhüten auf einer Gondel, die von dem Führer, der ebenfalls einen Hut aufhatte, angetrieben wurde. Und beide sangen irgendein Gondellied, das Alea nicht kannte.

„Huhu!", rief Sammy, als er sie bemerkte. „Der Typ hier ist voll krass, er fährt jetzt schon die dritte Runde den Kanal entlang!" Ben übersetzte für den Führer und dieser lachte.

You two boys really can well sing!", dröhnte er in schlechtem Englisch und mit starkem Akzent. Er erinnerte Alea ein bisschen an Opa Ernst, Ben und Sammys Großvater.

Der Bandenjüngste strahlte nach diesem Kompliment und begann gleich ein nächstes Lied. Doch dann mussten sie aussteigen, da es auch noch andere Touristen gab, die gondeln wollten, und die Brüder eh schon länger gefahren sind als sie überhaupt dafür bezahlt hatten.

„Das war echt mega", fand Sammy. „Wenn wir das nächste Mal hier sind, müsst ihr unbedingt auch ein paar Runden drehen!" Alea fragte sich, wann das wohl wäre. Oder ob sie irgendwann einmal wieder hier her kommen würden. Wahrscheinlich eher nicht. Sie fröstelte bei dem Gedanken daran, was wohl der Grund dafür sein wird. Aber wenn sie es wirklich schafften, Orion gefangen zu nehmen und dir Darkoner zu erlösen, falls sie Orion tatsächlich zu einer Lafora bringen könnten, und er dann seine Absichten ändern würde, dann käme Venedig noch einmal für sie infrage. Doch es gab einfach zu viel, was schief gehen könnte. Viel zu viel...

***

Das Geld reichte für die Tickets. Es war früh morgens und auf dem Bahnhof waren nur ein paar andere Menschen. Alea gähnte in regelmäßigen Abständen und Sammy schien im Stehen zu schlafen, doch dann veränderten sich die Werbeanzeigen an allen Ecken und verkündeten, dass der Zug einfuhr. Es dauerte noch bis er anhielt, und hinaus stiegen nur vereinzelt Personen aus den Türen. Lennox nahm seine Gitarre hoch und Ben und Tess schulterten die Rucksäcke, in denen sich das Proviant für Rom und das übriggebliebene Geld, was nicht mehr sehr viel war, befanden. Sie stiegen in den vorletzten rot-weißen Waggon, und Alea ließ sich gleich auf den nächstbesten Sitz fallen. Sie wollte die nächsten zwei Stunden mit Schlafen ausfüllen, denn in ihrem Zustand konnte sie ganz sicher nicht auf der Bühne auftreten. Außerdem war sie diese Nacht vor Aufregung fast die ganze Zeit lang wach geblieben, da konnte jetzt ein bisschen Schlaf keineswegs schaden. Als der Zugführer kam, um nach ihren Tickets zu sehen, träumte Alea schon davon, wie sie heute die größte Blamage ihres Lebens erlitt.

Mein Alea Aquarius 8Where stories live. Discover now