Lonely

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Von dort, wo sie sass, hatte sie einen wunderschönen Ausblick auf das Tal, die üppigen Wälder, den See, dessen Oberfläche im Mondlicht glitzerte. Es war kühl, und der Wind, der mit ihren Haaren tanzte, hinterliess eine angenehme Gänsehaut auf ihrem tauben Körper. Sie wusste nicht, wie sie hierhergekommen war, alles schien verschwommen, wirkte wie ein Film, den man zu schnell abspielt, alle Bilder zu einer undurchsichtigen Masse verschmolzen.

Sie erinnerte sich bruchstückhaft daran, am Morgen aufgestanden zu sein, das warme Bett verlassen zu haben, sich irgendetwas übergezogen zu haben - vermutlich einen Pullover. Sie sah an sich herab. Tatsächlich hatte sie noch ihre Pyjamahosen an.

Was war nur geschehen?

Sie erinnerte sich, keine schlechte Laune gehabt zu haben. Der gestrige Tag war ein guter gewesen, roch nach Veränderung, nach Verbesserung. Die Sonne stand am Himmel, das erste Mal seit langer Zeit, und sie hatte gelächelt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gelegenheiten, bei denen sie ihre Lippen verzog, war dieses Lächeln ehrlich.

Es gab etwas zu feiern, also öffnete sie eine Flasche Wein. Sie war zwar allein, doch das störte sie nicht. Ausnahmsweise. Sie telefonierte mit ihren Eltern, erzählte ihnen vom Tag, lief durch die Wohnung. Als sie das Gespräch beendete, hatte sie bereits zwei Gläser getrunken.

Es kam schleichend, wie eine Krankheit, von der man dachte, man sei sie losgeworden. Sie unterhielt sich online, die einzige Möglichkeit, die sie hatte, wenn sie sich mal wieder schämte, ihre Freunde anzurufen - es war auch bereits viel zu spät.

Zuerst wollte sie es nicht wahrhaben, doch als schliesslich eine einzelne Träne über ihre Wange rollte, musste sie sich eingestehen, dass die Einsamkeit sie einmal mehr fest in ihrem Griff hatte. Im Internet konnte sie sich gut verstellen, denn niemand konnte ihr Gesicht sehen. Das beruhigte sie, und als sie schliesslich erschöpft zu Bett ging, inzwischen war die Weinflasche leer, spürte sie die eiserne Hand des Monsters, das sich um ihr zerbrechliches Herz gelegt hatte, nicht mehr.

Doch als sie am nächsten Morgen aufgewacht war, war die Hand immer noch da.

Sie hatte keine schlechte Laune, aber auch keine gute. Sie war einfach da, hatte keine besondere Aufgabe, war nicht wichtig - war egal. Sie existierte. Sie riss sich zusammen, schleppte ihren Körper zum Sofa, wo sie sich erneut in ihre Decke einkuschelte. Sie wollte Wärme und Geborgenheit, doch was sie suchte, fand sie nicht.

Sie fühlte sich leer, verabscheute den Gedanken an den nächsten Tag, und doch lag sie da und wartete, dass die Zeit endlich vorübergehen würde. Diese jedoch zog sich zäh dahin. Also öffnete sie eine neue Flasche Alkohol. Kein Wein dieses Mal, sondern Vodka. Sie wollte etwas spüren, wollte sich beweisen, dass sie lebte.

Doch nichts.

Auch die Songs, die im Hintergrund liefen, lösten nichts in ihr aus, was seltsam war, denn normalerweise war Musik das, womit sie sich und ihre Gefühle ausdrücken konnte. Sie war keine Person der grossen Worte, auch wenn viele, die sie kannten, ihr widersprochen hätten, sie darauf hingewiesen hätten, dass sie schreiben konnte, sehr gut sogar, dass ihre Texte makellos und auf den Punkt waren.

Sie selbst würde sich am ehesten als Person der Gedanken bezeichnen, ständig von ihnen verfolgt, selbst wenn sie an nichts dachte. Sie kreisten sie ein, umringten sie, liessen sie nicht in Ruhe, sondern zogen sie in den dunklen, endlosen Schlund des Elends.

Warum war sie überhaupt hier? Sie hatte sich nie als Teil eines grossen Etwas gesehen, hatte sich nie zugehörig gefühlt. Sie kam mit ihren Mitmenschen aus, versuchte, allen mit Respekt und Anstand zu begegnen, doch es kam ihr immer so vor, als ob sie nirgendwo wirklich hingehörte. Trotzdem war sie nicht gerne alleine, auch wenn sie sich inzwischen an das Gefühl der Einsamkeit gewöhnt hatte.

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