Kapitel 6

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Zum ersten Mal seit Langem war es nicht die Hitze, die mich in den kommenden Nächten wachhielt. Die Saat der Gewissensbisse war gesät, und im Verlauf der nächsten Tage grassierte sie unaufhörlich durch meinen Kopf und setzte sich in all seinen Winkeln und Ecken fest. Schuldgefühle besitzen eine einzigartige, dunkle Macht. Man spielt mit ihnen herum wie mit Knetmasse, versucht sie den eigenen Vorstellungen nach zu formen und zu verändern, sie in eine Schablone hineinzupressen, in der sie sich besser anfühlen und irgendwie unbegründeter erscheinen. Ich war da keine Ausnahme. Doch je tiefer ich mich in diesem Gewirr aus Rechtfertigungen verzettelte, desto schlimmer wurde es, so schlimm, dass ich Leila, alias love_centipede, schon bald selbst aus meinem Kopf zu verbannen versuchte, natürlich nur vergeblich. Ein Teil von mir wusste, dass sie mit ihrem Vorwurf ins Schwarze getroffen hatte. Ich hatte sie für ein bisschen speziell gehalten, angesichts ihrer Interessen und Vorlieben, ich hatte es mir nicht eingestehen wollen und ich war davon ausgegangen, dass sie etwas mit dieser Friedhofsgeschichte zu tun haben könnte, zumindest unterschwellig. Und noch etwas war von Bedeutung: Dass sie mich schneller durchschaut hatte als ich selbst, zeigte nur, dass sie mit derlei Verurteilungen schon mehr als einmal zu tun gehabt hatte. Ich sei der gewesen, bei dem es endlich anders sei. Bei dem sie sich gut und verstanden gefühlt hätte.

Soviel dazu.

Drei volle Tage herrschte Funkstille. Am vierten Tag schrieb ich ihr eine Nachricht, mich jederzeit anrufen zu können, um über alles zu reden. Ich bat um Verzeihung, hätte unüberlegt und vorschnell geurteilt, verstände ihre Besorgnis. Mehr nicht. Es hätte nichts gebracht, ihr wie eine Klette hinterherzurennen und pausenlos mit Nachrichten zu bombardieren; das hätte sie vermutlich erst Recht abgeschreckt. Ich versuchte mit meinem Leben weiterzumachen wie bisher, obwohl die Spuren unserer kurzweiligen, dafür aber umso intensiveren Bekanntschaft gnadenlos ihre Wirkung zeigten; ich vermisste die nächtlichen Gespräche, vermisste den Austausch unserer Gedankengänge über Drogenkonsum und der Kirche, vermisste es, Empfehlungen zu Tumblr-Blogs und Horrorfilmen zu bekommen. Eines Abends erwischte ich mich dabei, wie ich durch unsere alten Gesprächsverläufe scrollte, wie ich ihre Heys :) zählte und wie ich minutenlang auf ihre Bilder starrte, die sie mir geschickt hatte. Das Bild mit ihrem Tattoo. Das Selfie auf ihrer Arbeit. Das Bild aus der Badewanne. Letzteres betrachtete ich am meisten, aber nicht, weil es so anreizend war: In diesem Bild steckte die Verheißung auf etwas Wundervolles, auf etwas, das hätte sein können und das unsere Bekanntschaft in eine völlig neue Sphäre gehoben hätte. Je bewusster ich mir dieser Tatsache wurde, desto stärker wurde mein Verlangen, mich unter der Bettdecke zu verkriechen und in einer feuchtheißen Blase aus Kummer und Schweiß zu ersticken.

Tagsüber kaute ich es immer wieder durch. Zerlegte den Gedanken in seine Einzelteile, reihte die Fakten auf, versuchte abzuwägen, was plausibler war. Ich wollte es nicht wahrhaben, und ein Teil von mir war sich auch völlig sicher, dass es geradezu abstrus und irrsinnig war, es überhaupt zu erwägen ... doch konnte ich mich vor der anderen Möglichkeit genauso wenig schützen wie vor Leilas entwaffnende Flirtereien. Ich versuchte mich an den Abend zu erinnern, als es passiert war. Wir hatten das erste Mal miteinander telefoniert. Im Vorfeld hatten wir über eine Stunde miteinander gechattet. So ein Unterfangen, das Ausgraben eines Sarges und das anschließende Aufbrechen – von den Demolierungen und Zerstörungen auf dem restlichen Friedhof mal ganz abgesehen –, dauerte Stunden, womöglich die ganze Nacht. Wir hatten uns erst gegen zwei Uhr voneinander verabschiedet, und danach wäre ihr höchstens noch ein Zeitfenster von drei Stunden geblieben, ehe die Sonne wieder aufgegangen wäre. Das hätte ihr niemals genügt. Außerdem, weshalb in Gottes Namen sollte sie so etwas tun? Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger entsetzte mich die Annahme, sie könne etwas mit diesem Vorfall zu tun haben, als vielmehr die Tatsache, dass ich es ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, zumindest für einen kurzen Moment.

Blind DateWhere stories live. Discover now