OneShot

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Beschützer

Leise fielen die Regentropfen gegen das Fenster, bevor sie wie Tränen daran herabliefen. Pfützen, so groß wie ganze Seen, bedeckten die Straße, ließen Passanten immer wieder fluchend ausweichend. Schwarze Taxen fuhren durch den Regen, nur noch Schatten in der aufkommenden Dämmerung. Die Straßenlaternen begannen, zu brennen, tauchten ihren Umkreis in helles Licht. Schwärze legte sich über London, welches doch nie ganz dunkel wurde. Nur zwischen den Laternen schien diese unendlich zu sein.
„Ein scheußliches Wetter“, murmelte John und verließ seinen Posten am Fenster, um sich schwer auf einen der Sessel fallen zu lassen. Gerne hätte er sich in eine Wolldecke eingehüllt. Es war Ende Oktober, doch es fühlte sich eher an wie der tiefste Winter. Fielen die Temperaturen nur noch um wenige Grad, würde der Regen, der Tag und Nacht fiel, zu Schnee werden. Eigentlich mochte John den Herbst. Bloß in diesen dunklen Stunden sehnte er sich den Sommer herbei. Im Sommer hätte er mit Sarah in einen der Parks gehen oder in Straßencafés sitzen können, über Gott und die Welt redend, aber nicht mehr. Doch nun, da es Herbst geworden war, trieb es auch die Ärztin eher in ihre Wohnung oder in ein dunkles, warmes Pub. John war nur ein oder zwei Mal mitgegangen. Es war die Dunkelheit, die ihm zu schaffen machte. Im Dunkeln musste er nachdenken. Im Dunkeln spürte er Dinge, die er nicht fühlen wollte, durfte.
„Mhm“, hörte er die verspätete Antwort aus der Küche. Sein schwarzhaariger Mitbewohner beugte sich über eines seiner Mikroskope, mit dem er etwas untersuchte. So wie John ihn kannte, war es etwas, das er absolut nicht in seiner Küche haben wollte.
Er schloss die Augen, bevor er wieder aufstand und in die Küche ging. Auf dem Herd stand neben einem alten Pizzakarton eine Kanne Tee. Der blonde Arzt nahm sich eine Tasse und fragte: „Willst du auch Tee?“
„Gern“, antwortete Sherlock und sah von seinem Mikroskop auf. „Bedrückt dich etwas?“
John hätte beinahe seine Tasse fallen gelassen. Im letzten Augenblick gelang es ihm, sich zu beherrschen. Ein warmes Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus, verdrängte beinahe Kälte und Melancholie.
„Nein... alles in Ordnung“, antwortete der Kleinere etwas zögerlich.
Dabei war rein gar nichts in Ordnung. Er konnte es nur nicht in Worte fassen. Ihm fiel keine einzige Erklärung dazu ein, was er fühlte, welche Gedanken ihn heimsuchten, wenn er Nachts in seinem Zimmer lag und im Dunkeln an die Decke starrte, im rauen Putz Gesichter sah... sein Gesicht...
„Mhm“, brummte Sherlock, nahm den Objektträger in die Hand und legte ihn auf den Tisch. Mit einem einzigen, langen Schritt stand er neben John und goss sich ebenfalls etwas von dem heißen Gebräu in eine Tasse. Er lehnte sich an die Küchenzeile und musterte seinen Freund und Kollegen erneut, bevor er an seinem Tee nippte. „Du schläfst schlecht.“
„Sagen dir das meine Ringe unter den Augen?“, fauchte John und kehrte zum Fenster zurück. Der Regen war stärker geworden. Seine Tropfen prasselten unaufhörlich gegen die Scheiben, ließen die Welt verschwimmen.
„Und deine Gereiztheit... abgesehen von den unruhigen Schritten, die nachts zwischen halb vier und fünf zuhören sind. Mrs Hudson schläft dank ihrer Medikamente durch, also bleibst nur du. Was bereitet dir Sorgen?“ Sherlock stand im hinteren Teil des Wohnzimmers. Auf Abstand, wie immer.

John stellte die Tasse ab und stützte sich mit zitternden Händen schwer auf den Fenstersims.
Wie konnte er es ausdrücken? Sollte er es überhaupt sagen? Wie würde Sherlock reagieren? Wenn er ihm sagte, dass er jede Nacht nur sein Gesicht vor Augen hatte? Dass er sich schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte, aufstand, um sich wieder hinzulegen, weil er sich wünschte, dass der Schwarzhaarige einen Arm um ihn schlag, ihn festhielt, beschützte vor dieser viel zu schnellen, kalten Welt.

„Es ist nichts“, log John, „bloß die Erinnerung an den Krieg. Mehr nicht.“
„Ich sagte dir bereits, dass du den Therapeuten wechseln solltest“, erwiderte Sherlock kühl. „Wenn du mir genaueres erzählen möchtest...“
„Nein!“, stieß der Arzt hervor. Ihm war schlecht geworden. Verkrampft stand er vor dem Fenster und blickte hinaus in den Regen. Er würde noch an seinen Gefühlen zerbrechen. „Es wird besser werden. Da bin ich mir sicher.“
Er fühlte sich elend. So wie der Regen die Welt einhüllte, legte sich Einsamkeit und Kälte um ihn, wie die Decke, die er sich zuvor noch gewünscht hatte.


Er schlief auch in dieser Nacht nicht. Auf dem Rücken liegend starrte er die Decke an, unfähig sich zu rühren oder auch nur die Augen zu schließen. Sollte er Sherlock von seinen Gefühlen erzählen? Nein! Wie kam er bloß auf solche Gedanken? Der Consulting Detective würde ihn auslachen oder schlimmeres. Er konnte es ihm nicht sagen, niemals. Vielleicht würden seine Gefühle irgendwann verschwinden, so schnell, wie sie gekommen waren. Dabei waren sie nicht schnell aufgetaucht. Es gab keine Sekunde X, in der er plötzlich festgestellt hatte, dass er Sherlock liebte. War die Bewunderung, die er dem Schwarzhaarigen entgegenbrachte, der erste Schritt zur Liebe gewesen? John vermochte es nicht mehr zu sagen. Doch spätestens, als er zum ersten Mal von Sherlock Holmes geträumt hatte, war ihm klar geworden, dass etwas nicht stimmte. Dass er schon bei den kleinsten Berührungen zusammenzuckte, weil er das Gefühl hatte, in eine Steckdose zu greifen.

John blickte auf den Wecker auf seinem Nachttisch. 4:38. Er würde sich einen Tee machen und vielleicht ein Schlafmittel schlucken. So konnte es nicht weitergehen. Fröstelnd schlug er die Decke zurück und stand auf. Barfuß tappte er die Treppe hinunter, wobei er sich bemühte, möglichst leise zu sein. Wenn er Sherlock wecken würde...
Doch dieser war bereits wach. Schweigend, eine Decke über den Knien und eine dampfende Tasse in der Hand saß er auf dem Sofa und starrte den leeren Kamin an. Johns Herzschlag beschleunigte sich, als er den Meisterdetektiv sah.
„Ich... wollte nicht stören...“, setzte er an, wurde jedoch dadurch unterbrochen, dass Sherlock mit dem Kopf auf eine weitere Tasse deutete, die auf dem Wohnzimmertisch stand.
„Ich dachte mir, dass du herunter kommen würdest. Also habe ich Tee gekocht.“ Seine Stimme war äußerst kontrolliert und dunkel.
Die feinen Härchen auf Johns Unterarmen stellten sich auf, als er sich neben seinen Mitbewohner setzte, die Teetasse aufnehmend. Das Gebräu war wunderbar warm, im Gegensatz zum Rest der Wohnung.
„Decke?“ Sherlock faltete die Wolldecke auseinander und bot John eine Hälfte an. Sein Magen rebellierte, als er danach griff und eine schreckliche, irreführende Vorfreude ergriff sein Herz, hielt es eisern umschlossen, sodass er glaubte, kaum mehr atmen zu können.
„Warum?“ John nahm einen zu großen Schluck Tee, um Sherlock nicht ansehen zu müssen. Wer konnte wissen, was er als nächstes tun würde? Sich auf ihn stürzen? Ihm von seinen innersten Gefühlen erzählen?
Noch immer prasselte der Regen gegen die Fenster, ein Geräusch, das sich in der Stille des Raums auszubreiten schien, bis es schmerzhaft laut wurde. Es übertönte sogar Johns Herzschlag.
„Ich hatte einen Kampf zu bestehen. Einen inneren...“, murmelte Sherlock und sah den Kleineren von der Seite her an. „Und ich fürchte, ich verlor.“

John durfte ihn nicht ansehen. Wenn er nun den Blick in die grauen Augen riskieren würde, wäre er verloren. Sie saßen zu dicht bei einander. Er konnte die Körperwärme des anderen spüren, seinen warmen Atem, wenn er sprach. Er roch nach Tee und Chemikalien. Ein betörender Geruch. John schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Er würde es schaffen, sich nicht gehen zu lassen. Irgendwie... Er spürte, wie er ruhiger wurde, je mehr er von dem unverwechselbaren Duft Sherlocks einatmete. Bleierne Müdigkeit legte sich über seine Glieder. Es war falsch. Völlig falsch. Er kannte diese Anzeichen des Schlafes, doch...
„Sherlock, hast du mir etwas in den Tee getan?“, hörte er sich mit einer Stimme fragen, die definitiv nicht seine eigenen war. Er hörte sich an, als habe er getrunken. Seine Glieder wurden schwer, sein Griff um die Tasse lockerte sich.
Bevor sie auf den Boden fallen konnte, griff Sherlock nach ihr und stellte sie auf den Tisch. Ein Lächeln lag auf den Lippen des Schwarzhaarigen. Behutsam berührte er Johns Hand.
„Ich kann es wohl kaum zulassen, dass der einzige Freund, den ich je hatte, sich zu Tode grübelt und jede Nacht wach liegt. Schlaf jetzt, John.“
John spürte, wie seine Sinne schwächer wurden. Gerade so, spürte er Sherlocks warmen Atem auf seinen Wangen, bevor dieser sie küsste. Wäre sein Herz unbeeinflusst durch die Medikamente gewesen, es hätte wohl schneller geschlagen als je zu vor in seinem Leben. Doch so blieb es ruhig, passte sich seiner langsamen Atmung ab. Sein Kopf fiel auf Sherlocks Schulter, rutschte daran herunter. John merkte nur noch undeutlich, wie Sherlock aufstand, um seinen ganzen Körper auf das Sofa zu legen. Dann hob er den Kopf des Blonden und drapierte ihn auf seinem Knie, fuhr durch dessen Haare.
Das Letzte, was John hörte, bevor er das Land der Träume betrat, war eine leise, dunkle Stimme: „Du kannst dir vorstellen, welchen Kampf ich verlor, oder? Den gegen meine Gefühle. Denn du bist nicht nur mein einziger Freund. Du bist auch.... schlaf' einfach. Ich werde dich beschützen, und sei es nur vor Albträumen.“

Beschützer [Johnlock Fanfiction]Where stories live. Discover now