Ich bin da

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Bis hierher hat schon mal alles wie geplant funktioniert. Tatsächlich ist es mittlerweile mehr als dunkel draussen. Ich ziehe mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht. Zum Glück sind nicht viele Menschen draussen unterwegs. Hin und wieder drehe ich mich um, versuche zu überblicken, wem ich begegne. Die Strassen sind still und die wenigen Menschen, die mir über den Weg laufen, sind in ihre Handys vertieft oder so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ich unauffällig an ihnen vorbei gehen kann. 

Unauffällig sein, das kann ich. 

Ich hoffe, DU hast keine Angst und vertraust mir wirklich. Sonst wäre das hier wirklich nicht optimal.

Für einen kurzen Moment huscht ein Lächeln über mein Gesicht.

Ich meine, wir versuchen zusammen einen Mörder zu finden und meine Halbschwester zu befreien. Und ich schicke DICH zu einem abgelegen Ort, um dich dort am späten Abend mit jemandem zu treffen, den DU gar nicht kennst. Von dem du quasi nichts weißt, der sonst wer sein könnte. 

Ich müsste wütend auf dich sein, dass DU so ein Risiko eingehst.

Ich schüttle den Kopf und gehe Schritt für Schritt weiter. Von meiner Bleibe aus ist es wirklich nur ein kurzer Marsch von 15 Minuten. 

Von nun an muss ich meine Gedanken ausschalten.

Sonst laufe ich davon. Ich setze einen Fuss vor den anderen und laufe stumpf vorwärts. Dann bin ich da. Es ist ein alter Busbahnhof. Ich habe ihn schon lange beobachtet. Hier ist nichts los. Kaum Menschen. Kaum Verdacht. Und ich werde dich sofort erkennen. Wäre ich der Entführer, dann hättest du keine Chance mir zu entkommen. Du wärst mir in die Falle getappt. Ich sollte wirklich aufhören solche Gedanken zu haben. 

Ich weiß, dass es noch dauern wird bis DU hier bist. Aber ich wollte auf keinen Fall, dass DU auf mich warten musst. Ich wollte vor dir hier sein, die Lage beobachten und dich notfalls informieren sollte sich etwas an der Situation nicht richtig anfühlen. 

Jetzt stehe ich hier. Meine Kapuze tief in mein Gesicht gezogen. Meine Beine zittern. Ein leichtes Lächeln huscht über mein Gesicht.

Es ist endlich soweit.

DU kommst zu mir. 

Was für ein verrückter Gedanke. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ich dachte, du seist da, um mir bei der Suche nach Hannah zu helfen. Und, wenn wir sie gefunden hätten, dann würden sich unsere Wege einfach wieder trennen. So wie es in meinem Leben immer war. Menschen begleiteten mich eine zeitlang und dann liess ich sie wieder gehen. Ein ums andere Mal. Nur wenige, sehr ausgewählte Menschen durften bleiben. Menschen, bei denen ich mir sicher war, dass sie mir nicht schaden würden, so wie Dave. Er war mir überall die Jahre ein treuer Freund. Und jetzt? Gerade gebe ich alles auf, was ich mir all die Jahre über aufgebaut habe.

Für einen Menschen.

Dabei habe ich bisher nichts anderes getan als mich von ihnen fernzuhalten. Mich niemanden anzuvertrauen, keine Bekanntschaften, die zu Freundschaften werden. Selbst meine Mutter besuchte ich nur sehr selten. An allen Ecken lauerten zu viele Risiken, die mich oder meine Arbeit behindern hätten können. 

Und dann kamst du. 

Deine Nummer, die in mein Leben geflogen kam. Deine Augen, die so viel Freude und Gutmütigkeit zeigten. Dieses warme Gefühl, dass sich in meiner Brust ausbreitete - jedes Mal, wenn ich an dich dachte oder Worte von dir las. Das erste Mal als ich den Chat nicht verlassen wollte, weil ich Zeit mit dir wollte. Zeit mit dir brauchte. Wie du dich darüber lustig machtest und ich verlegen an meinem Rechner saß. All das machte mir nichts aus. Warst du involviert, war mir alles andere egal. 

Ich stelle mich in eine Ecke und schaue mich um.

Bisher geht mein Plan auf. 

Ausser einem Jugendlichen und einer älteren Dame mit Hund ist hier niemand zusehen. Das ist perfekt. 

Danke Alan, dass du mir diesen Moment nicht versaust. Vielen Dank!

Und dann...

...erscheint Etwas in meinem Augenwinkel. Ich drehe meinen Kopf leicht nach rechts und da bist DU.

Wie kannst DU schon hier sein?

Ich hatte damit gerechnet locker ein paar Stunden hier zustehen, bevor DU kommst. Ich wollte mich innerlich auf alles vorbereiten was kommt. Wie begrüssen wir uns, wie werden die ersten Minuten, wirst du wirklich kommen oder muss ich dir kurzfristig absagen.

Aber DU bist da.

Und DU kommst direkt auf mich zu.

Wie konntest DU mich so leicht erkennen? Sieht man mir etwa an, dass mein ganzer Körper angespannt ist? Dass ich zittere?

Oh man, Jake. Reiss dich zusammen! Du, der coole Hackertyp, der sich gerade ins Hemd macht. Das kann jawohl nicht wahr sein. 

Ob ich auf DICH zugehen sollte? Ich weiß es nicht. F**k, ich dachte wirklich, ich hätte noch Zeit und könnte die nächsten Stunden darüber nachdenken. Aber jetzt bleiben mir nur noch Sekunden. Los, Gehirn, funktioniere! Wirklich. Es ist wichtig, dass wir jetzt zusammenhalten. 

Alles klar, Jake atme, dann dreh dich um und geh auf sie zu.

Ein tiefer Atemzug durchflutet meinen Körper. Mir war nicht bewusst, wie sehr ich diesen Sauerstoff gerade benötigte. Dann drehe ich mich nach rechts und setze mich langsam in Bewegung. Meine Füsse tragen mich ganz automatisch in deine Richtung. Ich blicke auf den Boden und traue mich nicht den Blick zu heben. Ich fühle deinen Blick auf mir und ich weiß genau, wenn ich jetzt nach oben schaue, dann werden sich unsere Blicke unweigerlich treffen. 

Und gerade als dieser Gedanke sich in meinem Kopf ausbreitet, hebt sich mein Blick automatisch. Wie sollte ich dich auch nicht anschauen wollen? Und ich hatte recht, DU schaust zu mir. Unsere Blicke treffen sich und ein Lächeln umspielt deine Lippen.

Natürlich weißt DU, dass ich es bin.

Nur noch wenige Schritte, dann stehst DU vor mir. Nur noch wenige Meter und DU bist bei mir. 
Endlich werde ich dich beschützen können. Endlich bin ich es, der Zeit mit dir verbringen darf. 

Nur DU und ich. 




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