Das (vor)letzte Leben

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Ich war eingequetscht, zwischen zwei Soldaten. Das gleichmäßige Schaukeln hatte fast alle in unserem Team zum Einschlafen gebracht. Nur ich und mein bester Kumpel waren noch wach. Ich suchte seinen Blick, über die schlafenden Soldaten hinweg und ein unbestimmter Ausdruck lag darin. Es war eine Mischung aus Angst, Entschlossenheit und Wut.

Kein Wunder, denn es war unser erster Einsatz. Wir hatten beide erst vor kurzem mit der Militärausbildung angefangen, doch der Mangel an Soldaten und die ständige Bedrohung, der Russen, zwangen alle Männer, die einen hauch an Kampferfahrung hatten auf das Schlachtfeld.Die Ukraine wurde schon fast über einen Monat von den russischen Soldaten bombardiert und es war höchste Zeit ihnen zu zeigen, wo es langging!

Plötzlich stoppte der Panzer, in dem wir saßen und alle Soldaten begannen langsam die Augen zu öffnen. Der Kommandant war sofort an der Luke, um diese zu öffnen. Ein Lichtstrahl bahnte sich, mit dem Öffnen der Luke, einen Weg ins Panzerinnere. Der Kommandant begann alle herauszujagen und ich wollte gerade seinem Befehl Folge leisten, als mein Blick auf meinen Freund fiel. Er war aschfahl und lag mit weit aufgerissenen Augen am Boden. Ich krabbelte und kroch so schnell es ging zu ihm herüber.

„Hey! Alles in Ordnung?!", fragte ich.

Er brachte nur ein unverständliches Röcheln hervor. „Kommt, sonst fliegt das Ding mit euch in die Luft!", brüllte der Kommandant. Ich packte fest entschlossen meinen besten Kumpel unter den Achseln und schleifte ihn durch den nun leeren Panzer. „Er hat eine Panikattacke oder sowas, helfen Sie ihm!", flehte ich den Kommandanten an, als ich unter der Luke stand. Er streckte seine Arme durch das Loch und zog den 90 Kilogramm schweren Mann locker nach oben. „Schnell! Feindliche Soldaten haben hier Bomben gelegt, wo müssen verschwinden!", erklärte er in einem ernsten Tonfall. Ich nickte und erwiderte: „Kümmern sie sich um meinen Freund, ich komm schon klar!" Der Kommandant nickte und verschwand aus meinem eingeschränkten Sichtfeld. Jetzt kletterte ich selbst aus der Luke, doch sowie ich oben auf dem Dach des Panzers stand, hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall.

Alles wurde schwarz!

Im nächsten Moment blendete mich ein helles Licht und für eine hundertstel Sekunde konnte ich sehen!

Also, so richtig sehen. Ich verstand, wie die Welt funktionierte. Alles war auf einen Schlag glasklar. Der Sinn des Lebens, die Entstehung des Universums und alle Antworten auf alle unbeantworteten Fragen, sah ich auf einmal vor mir.
Wie konnte die Menschheit, diese Kleinigkeit übersehen? Wir halten uns für so schlau, dabei sind wir einfach nur grausame Tyrannen. Wir haben die Erde überfallen und nichts als Verwüstung angerichtet! Über Generationen hinweg herrschten wir über die Erde und tun es immer noch.
So vieles wurde mir in dieser hundertstel Sekunde gezeigt. Dieses Wissen hätte mich vermutlich um den Verstand gebracht, wäre es länger in meinem Kopf geblieben. Dieser kurze Augenblick war allerdings eine umwerfende Bereicherung. Eine Sache konnte ich mir aussuchen. Eine einzige Sache. Ein kleines Etwas, ein Bruchteil, durfte ich behalten.

Diese tausendstel Sekunde war die längst Zeit in meinem ganzen vorherigen Leben. Ich befand mich in einer Art Zwischenwelt, in der die Zeit keine Bedeutung hatte. Zwischen schlafen und wach sein, aus und an, hell und dunkel.

Zwischen Leben und Tod!

Hier konnte ich so lange bleiben, bis ich mich für ein Bruchstück entschieden hatte. Ich musste mit bedacht vorgehen, soviel ist klar. Es muss so viel Wissen in diesem einzigen, winzigen Bruchteil enthalten sein, dass ich die Menschheit aufklären konnte. Sie muss sich ihrer Dummheit bewusst werden, sonst wird es ihr Untergang sein!


Ich war kurz davor! Gleich hatte ich die richtige Entscheidung getroffen!
Zwei Wahlmöglichkeiten blieben noch. Für welchen Weg sollte ich mich entscheiden?

Einmal einatmen und wieder ausatmen, in mich gehen und dann eine klare und richtige Entscheidung treffen. Sobald ich mich festgelegt hatte, würden alle Erinnerungen an diese hundertstel Sekunde verschwinden und ich würde in einem neuen Körper, in einer neuen Familie, in meinem letzten Leben, aufwachen. Denn das war es! Meine allerletzte Chance, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren, der unaufhaltsam auf sie zukam. Trotz der viele Versuche, des Schicksals, die Menschheit auf die richtige Bahn zu lenken, war es bis heute noch keinem der vielen Milliarden Menschen gelungen, dass zu erkennen, was ich in diesem Moment sah. Wo es doch so einfach war, denn die Menschen leben in Wirklichkeit viel länger als sie glauben!

Und in diesem Moment hatte ich meine Entscheidung getroffen. Es war die ganze Zeit die richtige Antwort gewesen. Tief in meinem Inneren hatte ich es immer gewusst. Das richtige Bruchstück, das die Welt für immer verändern würde, war ...















42!

42! War der erste Gedanke, als mich strahlende Helligkeit empfing und eine glückliche Stimme rief: „Es ist ein Mädchen!"
Verwirrt kuschelte ich mich in die Arme einer Frau, die mich müde, aber überglücklich anlächelte.
Wo war ich hier? Meine Augen schwirrten umher, ich sah ein Dutzend Augenpaare, die mich erwartungsvoll anschauten. Was wollten die alle von mir? 

Ich will meine Ruhe wollte ich schreien, doch es kamen nur komische Laute aus meinem Mund, die keiner Verstand. Plötzlich legten sich die Arme, der Frau um mich und ich wurde wieder etwas ruhiger. Sie hob meinen Kopf an ihre Brust und mein Mund fand automatisch zu meiner Nahrungsquelle. Als ich schließlich glücklich die warme Milch trank, war mir alles egal und ich wusste alles würde gut werden. 

Das (vor)letzte LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt