Kapitel 9

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Als ich das Gebäude betrat war ich überrascht, wie warm und freundlich hier alles ist. Nachdem es von außen wie ein altes Fabrikgebäude aussah hat es hier drin bunte Wände, Holzdielen und überall flauschige Teppiche. Beim Umsehen fielen mir zwei Dinge sehr schnell auf. Wie wohl sich die Kinder hier fühlen und wie sehr sie mein Anblick aus ihrer Komfortzone riss. Meine Entscheidung als erwachsener Mann hierher zu kommen war vielleicht nicht die Beste. Jetzt gibt es aber nicht viel, was ich tun kann, außer mir vorzunehmen, mich beim nächsten Mal anders anzuziehen.

Aber ich wäre nicht JJ der Gestaltwandler wenn ich nicht zumindest etwas tun könnte, um die Situation zu verbessern. So zog ich Jacke und Hut aus und ließ beides an der Garderobe im Eingangsbereich zurück. Mit den Händen fuhr ich mir solange durch die Haare bis der geschniegelte Altherren Look einem fröhlichen Jugend-Look wich. Dafür erntete ich erleichtertes Lächeln einiger Kinder.

Auf der Suche nach einem Verantwortlichen nahm ich auf, wie die Kinder miteinander umgehen und in welchem Zustand sie sind. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte ich an meine eigene Familie zurück, meine Brüder, die echten meine ich. Und meine Eltern. Ich war auch mal so ausgemergelt wie der Junge, der da drüben in der Leseecke auf dem Boden sitzt, in einer Hand einen bis aufs Kerngehäuse abgenagten Apfel und an die aufgestellten Beine ein Buch gelehnt, dessen Seiten er mit der anderen umblättert während er tief in der Geschichte versunken ist, die er liest. Die ganze Szene berührt etwas tief in mir auf eine merkwürdige Weise.

Gegenüber des Jungen ist eine sehr alte Frau, die sehr geduldig mit einem sehr verzweifelten Kind eine sehr schwierige Aufgabe durchgeht. Wirklich alles sehr sehr. Schmunzelnd hatte ich eine Weile gelauscht, bevor ich entschloss, sie nicht zu stören und zu sehen, ob ich nicht jemand anderen finden kann. Falls nicht kann ich später immer noch zu ihr zurückgehen. Ich war immer jemand, der schnell begriff und Lydia ist eine gute Lehrerin. Aber die alte Frau beeindruckt mich, weil sie ihre Erklärungen nicht dauernd wiederholt. Stattdessen versucht sie es jedesmal auf eine andere Weise, geht dabei total auf das Kind ein und ihr Geduldsfaden, der Lydia gern mal reißt, scheint bei ihr sehr dick und unendlich lang zu sein.

Wie es wohl Lio und Ean geht? In der Anfangszeit habe ich noch hin und wieder an sie gedacht. Vermisst, habe ich niemanden, man kann nichts vermissen, was man nicht wirklich hatte und ich hatte damals zu niemandem auch nur annähernd eine Beziehung. Als ich in die Küche kam entdeckte ich einen Mann, der über die Kunst des Tischdeckens redete und näherte mich dabei einem kleinen Jungen, der mit einem Handrührgerät Sahne schlug, neugierig, ob er den Zeitpunkt erkennt, wann er aufhören muss, bevor sie zu Butter wird. So kam es, dass ich in der Nähe stand, als ihm das Ganze entglitt.

Ich half so gut ich konnte, stand ansonsten möglichst nicht im Weg und beobachtete erneut, mit wie viel Einfühlungsvermögen man hier auf die Kinder eingeht. Und wieder war da so ein komisches Gefühl in meinem Magen das ich nicht zuordnen konnte. Ich muss das beobachten. Ich hoffe nur ich werde nicht krank.

Jetzt ist es Zeit all meine Sinne zusammen zu nehmen und mich auf Mike zu konzentrieren. Seine selbstbewusste Art und die Weise, wie er das Kommando übernimmt sagen mir, dass er hier der Chef ist oder ein Chef. Aber seine Stimme ist warm und so folge ich ihm in sein Büro.

"Du willst also helfen? Vielleicht erzählst du erstmal von Dir?" Seine Frage ist logisch aber mein Verlangen ihm ehrlich zu antworten überrascht mich. Schon zum zweiten Mal höre ich mich meinen vollen Namen aussprechen. Irgendwas an diesem Ort berührt mein inneres Ich. Den Jay Jackson in mir. Das Kind das mal wieder auf der Suche nach seinem Platz in seinem Leben ist. In den ersten wurde ich hineingeboren, in den zweiten hineingegeben, den nächsten Platz muss ich selbst finden. Ein neues Abenteuer.

"Meine Familie ist gerade hier angekommen und wir bleiben eine Weile. Irgendwann ziehen wir weiter, immer Morts nächstem Job hinterher, aber solange ich hier bin, würde ich gerne helfen." Er nickt. "Und Mort ist?", fragt er und mir wird klar, wie sehr er bereit ist, die Kinder in seiner Einrichtung zu schützen. Ich lächle. "Mein Pflegevater und kein schlechter. Aber ich bin 18 und mit der Schule fertig. Das hier mache ich nur für mich." Erstaunt sieht er mich an und ich grinse breit. "Was soll ich sagen, ich bin ein schlaues Kerlchen und Lydia eine gute Lehrerin. Ich habe alle Prüfungen und Tests immer ein Jahr eher gemacht, als alle anderen."

Sein durchdringender Blick lässt mich erschauern. "Keine Uni?" Ich schüttele meinen Kopf und verdrehe die Augen. "Meine Talente liegen eher woanders."

"Aha, und wo? Wir müssen ja wissen, wo wir dich Einsetzen können."

Ich zucke mit den Schultern. Fingerfertigkeit, denke ich und sage: "Handwerkliches Geschick und Showbizz" obwohl ich Verwandlungskünstler meine.

"Und ich bin ein erfahrener, großer Bruder. Mort und Lydia nehmen immer wieder neue Jungs auf, wenn ein Platz frei wird."

Das scheint ihn zu überzeugen. Er erzählt mir von den anderen Helfern hier, alles ehemalige irgendwas die ihre Berufserfahrung nutzen um den Kindern zu helfen und führt mich dann herum, um mir alles zu zeigen und mich Fiona, der alten Frau, und Gunnar, dem Mann aus der Küche vorzustellen, den ich ja schon kennengelernt habe.

"Schau dich am Besten um und wenn du was Wissen willst, frag. Einige der größeren Jungs und Mädchen können sicher auch helfen. Was uns wirklich fehlt ist ein großer Bruder für die Kids, der mit ihnen spielt, ihnen bei Problemen hilft und es ernst meint." Ich nicke. Gunnar hat das Kuchenessen bereits beendet und ist mit den Kids beim Spülen. Wie Fiona und Mike scheint auch er genau zu wissen, wo er in seinem Leben steht und was er will. Die Ruhe, die er ausstrahlt, hat etwas Magisches und ich bin nicht der Einzige, der sich davon angezogen fühlt. Als drei Kinder gleichzeitig auf ihn einreden und Mike davoneilen muss, weil aus dem Garten das Geschrei von zwei Kampfhähnen erklingt, entscheide ich mich, zum ersten Mal in meinem Leben ich selbst zu sein.

Ich tippe dem weinenden Mädchen, das um Gunnars Aufmerksamkeit bettelt, auf die Schulter und gehe vor ihr in die Hocke. "Ich glaub da kann ich helfen", erkläre ich ihr und halte eine Hand offen hin. Mit großen Augen legt sie das kleine, mit einem Vorhängeschloss versehene Tagebuch darauf, ohne es loszulassen. "Marko hat den Schlüssel geklaut, er sagt wenn er gefunden hat wozu er gehört dann ist das alles seins. Aber meine Geheimnisse darf er nicht bekommen. Aber ohne Schlüssel kann ich auch keine mehr aufschreiben." Ich mache ein beruhigendes Geräusch und als sie sich beruhigt lege ich den Finger meiner freien Hand nachdenklich an mein Kinn.

"Ein Problem nach dem anderen", grüble ich laut. "Zuerst müssen wir dieses Schloss aufbekommen." Dann greife ich an ihr Ohr und ziehe eine Büroklammer hervor. Davon habe ich immer ein Paar in der Hosentasche. "Ah, und da haben wir auch schon das passende Werkzeug, danke fürs Mitbringen", lobe ich sie und ihre Augen werden groß. Sie dürfte so um die zehn sein und ist so überrascht von meiner Magie, dass sie nichts sagen kann. Schnell habe ich die Nadel einhändig zwischen meinen Fingern und mit Einsatz meiner Zähne zurechtgebogen. "Und schon haben wir einen neuen Schlüssel."

Nachdem das Schloss entfernt ist nimmt sie das Buch wieder an sich. Gunnar hat mittlerweile die Probleme der anderen Kids gelöst und beugt sich nun ebenfalls zu dem Mädchen herab. "Als Nächstes schlage ich vor, du lässt dein Tagebuch heute abend hier. Wir können darauf aufpassen." Ich nicke zustimmend. "Und morgen bringe ich dir ein Neues, Besseres." Sie nickt und schaut zwischen uns hin und her. "Danke!", haucht sie, bevor sie davon eilt um dem Buch ihre neuesten Geheimnisse anzuvertrauen.

Ich komme wieder hoch und sehe Gunnar direkt in die Augen. Ich bin etwas nervös wie er auf meine Knackerfähigkeit reagiert, auch wenn das wirklich ein Kinderschloss war, was jeder Depp mit genug Ausdauer und einem entsprechenden Metallhaken auffummeln kann. Doch er überrascht mich, als er mir anerkennend zunickt.

"Diese Kinder werden in den meisten Fällen nicht ernst genommen mit ihren Problemen. Daher, gut gemacht!" Ich lächle ihn an. "Kein Problem." Ich verbringe den Rest des Nachmittags und Abends mit den Kindern um sie kennenzulernen und werde Opfer der mütterlichen Liebe von Fiona, was mich wieder ganz schwummrig macht. Als der Laden seine Pforten für die Nacht schließt und Gunnar bemerkt, dass ich ohne Auto da bin, hält er mich auf. "Kann ich dich irgendwo absetzen?" Ich schüttle den Kopf und grinse ihn frech an. "Ich wollte mir noch die Stadt ansehen und diesen Pub, Silver Lion, besuchen von dem im Netz so geschwärmt wird." Dann tippe ich zum Abschied gegen die Hutkrempe und nicke ihm noch mal zu.

Resort de la Pheya 10 - JJWo Geschichten leben. Entdecke jetzt