38 - Vandro

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Lieber Kyu,
wenn du diesen Brief liest, wird es höchstwahrscheinlich bedeuten, dass ich diese Welt verlassen habe.
Vermutlich fragst du dich jetzt, weshalb überhaupt so einen Brief schreibe. Lass es mich kurz erklären...
Seit dem Tag, an dem dieser Vampir in der Schule aufgetaucht war, ging es in meinem Leben auf und ab. Noch am selben Tag habe ich erfahren müssen, dass Joey Koslowski mein zweiter Vater ist. Mein Vater - oder scheinbar Adoptivvater - Raymond hatte nie wirklich über meine Mutter gesprochen. Jetzt weiß ich, dass ich nie eine richtige Mutter besaß. Es ist erschreckend, dass man mir nie etwas gesagt hatte...

Ich habe so fürchterliche Angst vor Joey, auch wenn er mir nichts antut. Ich kann nicht versichern, dass er mich ewig verschont. Aber ich muss den Kontakt zu ihm halten! Er weiß so viel über Dad. Und Joey ist eine Gefahr, ich weiß, dass ich ihn aufhalten kann.
Wie auch immer. Ich möchte dir in diesem Brief noch einmal deutlich machen, dass du seit dem Kindergarten mein allerbester Freund warst. Eine Person, der ich alles anvertrauen konnte, egal wann und egal was. Ich danke dir für jede einzelne Sekunde meines Lebens, so kurz es auch war. Erinnerst du dich noch, als wir im Schwimmbad waren mit unseren Eltern und Amika? Ich hatte so fürchterliche Angst davor auf dieser Rutsche zu rutschen, obwohl wir zehn waren. Du hast mir versprochen mich aufzufangen, wenn ich unten ankommen würde. Ich habe dir von ganzem Herzen vertraut. Und du hast mich, wie versprochen, aufgefangen.
Du hast mich immer aufgefangen, wenn es mir nicht gut ging, ohne irgendwelche Fragen. Du hast es einfach getan.
Ich weiß, ich finde nicht immer die richtigen Worte. Aber kennst du noch diese Kette, die Amika mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte? Ich hätte da eine letzte bitte an dich... Könntest du sie ihr bitte zurückgeben zusammen mit dem Brief? Danke.

Generell danke ich dir für einfach alles. Bitte sei nicht allzu traurig, falls du trauern solltest. Ich werde niemals komplett fort sein. Und ich wette, du wirst eine Menge neue Leute kennenlernen über die Zeit.
Da fällt mir ein: Einen weiteren Wunsch hätte ich doch noch: Bitte pass auf Amika auf. Ich liebe sie, und ihr soll nichts geschehen... Genauso wenig wie dir. Danke.

In Liebe
Mack.

PS: Ich habe Steven und dich bei dem Kampf gegen den Vampir erkannt und hätte ein paar Namen für euch beiden. Für Steven hätte ich Blackshade oder Phantom. Und für dich SuperBombe (Du weißt schon, wegen Bomby) oder Toon Knight. Wenn sie euch gefallen, seid ruhig so frei, sie zu benutzen. :)

***

Von seinen eigenen Gefühlen übermannt las sich Kyu den Brief durch. In einer Hand den Brief, in der anderen das Glas Wasser, welches Holly ihm hochgebracht hatte. Gott sei Dank konnte er ihr weiß machen, dass er aus Angst heulte. Sie musste ja noch nicht allzu viel wissen. Zumindest bis er wusste, wo Mack war...
Immer und immer wieder durchkaute er jedes einzelne Wort auf dem Zettel, versuchte jede einzelne Botschaft darin zu wahrzunehmen und zu verarbeiten.
Auch wenn seine Sicht verschwommen war und seine Augen gereizt, erkannte er wellige Spuren auf dem Papier, wo Mack scheinbar beim Schreiben selbst ein paar Tränen vergossen hatte. Es musste wohl ein grauenhaftes Erlebnis gewesen sein, seinen eigenen Abschiedsbrief zu schreiben.
Aber es stand so viel drin. So viele Dinge, die für ihn komplettes Neuland waren. Zuerst einmal, dass er wohl wusste, dass er irgendwann sterben würde.
Und dass sein zweiter Vater Joey Koslowski war? Das war womöglich das unwahrscheinlichste, was hätte passieren können. Dem Mann durfte man doch eh nicht trauen, weshalb machte Mack solch einen gewaltigen Fehler?
Und wie konnte er Steven und ihn erkennen? Sie waren doch extra vorbereitet gewesen, damit genau das nicht passierte.

Aber das war noch lange nicht sein großes Problem. Jedes Mal, wenn er den Brief erneut durchlas - und damit den Schmerz des Lesens immer wieder wie beim allerersten Mal durchmachen musste - blieben seine Augen an dem Abschnitt mit Joey hängen. Mack war ja schon immer sehr naiv gewesen. Aber so naiv, dass er so etwas von Joey Koslowski abkaufen würde? Ausgerechnet von diesem Mann?
Wut entfachte sich in ihm wie ein Lagerfeuer. Zuerst nur ein Funke. Und von Sekunde zu Sekunde wurde es heißer. Größer und zerstörerischer.
"Er hätte Joey nie vertrauen dürfen", schluchzte der Junge und ließ seinen Kopf auf das Kopfkissen seines ehemaligen besten Freundes sacken. Sachte legte Bomby seine Hand auf seinen Arm.
"Aber irgendwo kann ich ihn verstehen...", gab er zu. "Er wollte ja nur etwas über seinen Vater wissen. Hätte er ja nicht mit rechnen können, dass es tödlich enden würde."
"Falls du das noch nicht weißt, Joey Koslowski ist ein entflohener Häftling, der lebenslang wegen Mordes an mehreren Personen eingebuchtet wurde", erklärte Kyu und sah zu der Bombe neben sich. "Wie soll er nicht ahnen, dass es so enden würde?"
"Wenn es stimmt, was im Brief steht, dann naja... Würdest du deinen eigenen Sohn umbringen wollen? Nur weil man einmal etwas unverzeihliches getan haben, heißt es nicht, dass sie bei allem herzlos handelt."

World of Living Art (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt