26| Was tust du hier?

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Die darauffolgende Stille war ohrenbetäubender, als jeder Schlag, jeder Knall, jedes Keuchen, das den Raum zuvor in eine auditive Qual getaucht hatte.

Jona und Hector standen sich gegenüber. Ein Euphemismus der Umstände, denn viel mehr standen sie verschlungen da, als ein Wesen, dessen Furcht nicht auszusprechen war.

Erst nach einigen Sekunden, wenn nicht Minuten, schob Jona die Schranktür mit seinem Fuß auf und stolperte in die Blässe der Deckenlampe. Hector lehnte weiterhin an gewohnter Stelle, wagte es nicht, auch nur einen Schritt zu tätigen. Seine Beine würden unter ihm nachgeben, da war er sich sicher.

Er beobachtete Jona, der durch das Büro schlich. Die Tür war geschlossen, alles wirkte befremdlich ruhig. Schritt für Schritt tastete er sich an die Ecke heran, in der Lola gekauert hatte.

Hector kroch aus dem Schrank und ließ sich auf den Rollstuhl hinter dem Schreibtisch gleiten. Er stöhnte auf und es war kein Stöhnen der Erleichterung oder des Schmerzes. Es war ein Stöhnen der Verzweiflung, das einen Bruch seiner Stimmbänder zu Folge hatte.

Die Kommode war beiseite gerollt worden. Und die Ecke dahinter war leer.

"Jona?", fragte Hector in einem Anflug der Panik. "Wo ist Lola?"

Er erhielt keine Antwort. "Jona?"

Langsam drehte der sich um. Er sah Hector an, aus seinen hoffnungslosen melancholischen Augen. "Wir gehen", sagte er bestimmt.

"Aber Lola-"

" - ist nicht hier", beendete Jona seinen Satz.

Hector schüttelte langsam den Kopf. Die Tränen auf seinem Gesicht waren längst noch nicht getrocknet, da folgten bereits die neuen. 

"Es tut mir Leid", murmelte sein Gegenüber und richtete sich auf.

"Was machen sie jetzt mit ihr?"

"Ich weiß es nicht."

Hector rümpfte die Nase und fuhr sich über die Augen. "Du lügst, du weißt genau, was sie tun werden." Zittrig atmete er durch. "Warum sagst du es mir nicht?"

Er stützte das Gesicht auf seine Hände. "Oh Gott, das ist alles meine Schuld", flüsterte er sich selbst zu. "Ohne mich hätte Lolas Mutter noch eine Tochter, Zach noch eine beste Freundin und..."

Sein Herz setzte aus. Er blickte auf. Jona musterte ihn.

"Meine beiden einzigen Freunde auf diesem Planeten sind verschwunden." Er lächelte ein Lächeln des Wahnsinns. "Zach und Lola - sie sind beide in den Fängen dieser Arschgeigen."

Langsam nickte Jona. "Das tut mir Leid, Hector, aber du hast jetzt andere Sorgen."

"Bitte?"

"Ich weiß, wie das klingt, aber jetzt kommen wir nicht mehr aus dem Gebäude. Und es wird nicht lange dauern, bis Lola nachgibt."

Hector sprang auf. Er gab sich keine Mühe mehr, den Tränenfluss zu stoppen. "Das würde sie niemals tun", zischte er. "Sie würde uns niemals verraten."

Jona seufzte. "Es wurden schon ganz andere Kaliber, als Lola hier auf die Probe gestellt. Und es hat noch nie einer dicht gehalten."

"Lola ist ihr eigenes Kaliber."

"Wohl wahr, aber es liegt trotzdem maximal im Mittelfeld. Jetzt komm."

Hector schluckte. Jona begann das Schloss von innen zu öffnen.

"Wie kann es eigentlich sein, dass du eine Tür in einem streng geheimen Labor nur mit einer Haarnadel aufbekommst? Das scheint mir etwas antithetisch."

Jona schmunzelte und drückte auf den Lichtschalter. Es wurde dunkel um sie herum.

"Glück", sagte er. "Wir haben die richtige Tür erwischt. Es haben noch nicht alle Büros im Labor voll automatische Zugänge."

Die Tür öffnete sich.

Hector verstummte augenblicklich. Sie schlichen durch die Gänge, Jona schien zu wissen, wo es lang ging. Eine bewundernswerte Eigenschaft, wie Hector feststellte.

"Wir gehen nur kurz zurück, um ein paar Sachen zu holen. Aber bleiben können wir nicht mehr. Es ist zu gefährlich", erklärte Jona, da stolperte Hector über etwas äußerst lebendiges, das ihn am Bein festgehalten hatte. Es kostete ihn einige Mühe, nicht laut anzuschreien.

"Jona!", zischte er. 

"Halt die Fresse, du Idiot!", tönte es aus einer tiefschwarzen Ecke des Flurs. Augenblicklich fiel ihm ein Stein vom Herzen. Jona fuhr herum.

"Was denn, dachtet ihr wirklich, ich bin so einfach zu kriegen?", sagte Lola und grinste. Hector starrte sie fassungslos an. Es waren wenige Minuten gewesen, doch ihre Abwesenheit hatte sich wie Jahre angefühlt. Er kam sich unendlich bescheuert vor.

"Wie..."

"Frag nicht." Er ließ Lola keine weitere Sekunde der Sprache, sondern stürzte sich auf sie. Sie schlang die Arme um ihn. Es war eine kurze Umarmung, doch sie fühlte sich an, als sei sie längst überfällig gewesen. 

"Ihr müsst mir aber hochhelfen", nuschelte sie in seine Halsbeuge. "Hat mich doch etwas härter erwischt."

Hector ließ von ihr ab. Besorgt musterte er sie. Jona hatte sich bereits neben sie gekniet und begutachtete die beachtlichen Risse in Lolas Hose. Hector wollte nicht wissen, was darunter lag.

"Da kümmere ich mich gleich drum", murmelte Jona. Er schob seinen einen Arm unter Lolas Knie, den anderen hinter ihren Rücken. In einer mühelosen Bewegung hob er sie hoch. Lola schlang ihre Arme um seinen Hals.

Hector schluckte. Er wusste nicht, wie lange sie durch die Klinik wandelten, bis sie endlich das richtige Labor erreichten, doch es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Und Jona schwächelte zu keiner Sekunde.

Vorsichtig setzte er Lola auf einem der Tische ab, bevor er sich dran machte, die Bodenplatte anzuheben. "Geh du vor, Hector. Dann kannst du ihr von unten helfen und ich von oben."

Lola schwang sich von der Tischplatte und folgte Hector in die Schwärze. Sie humpelte schwer, jeder Schritt schien ihr unendliche Schmerzen zu bereiten.

Als sie endlich wieder in gewohnter Umgebung waren, atmete er tief durch. "Das war furchtbar", keuchte er. "Nicht nochmal, bitte."

Jona schaltete das Licht ein und schrie auf.

Es war ein Geräusch, das da seiner Kehle entwichen war, das Hector in Jahren nicht von ihm erwartet hätte. Jona lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand und atmete tief durch.

"Du Scheiße, was tust du hier? Kannst du nicht sprechen?", presste er aufgebracht hervor.

Die blonde Frau im Kittel, die auf dem Boden saß beäugte ihn.

"Das sind gefährlich Zeiten, sich da oben aufzuhalten", sagte sie, bevor ihr Blick zu Hector wanderte. Der war erstarrt. Er konnte sich nicht von ihr abwenden.

"Du bist also immer noch hier", murmelte sie und sah tadelnd zu Jona auf.

"Schon wieder", korrigierte er sie. "Aber damit beantwortest du mir nicht die Frage, die ich dir gestellt habe."

Die junge Frau richtete sich mühselig auf. "Verzeihung, wie lautete die Frage, Jona?"

"Wieso bist du hier, Becca?"

Hector hätte geschrien, gäbe seine Stimme auch nur ansatzweise etwas dafür her.

ZuchtherzWhere stories live. Discover now