𝙺 𝙰 𝙿 𝙸 𝚃 𝙴 𝙻 𝙸𝙸𝙸 - 𝚃ü𝚛

39 9 0
                                    

Die Uhr zeigte 23:46.

Vorsichtig stahlen wir uns aus dem Kühlraum, über den Hof, durch Gassen und Straßen hinaus in die junge Nacht. Was in den letzten Stunden geschehen war, ließen die Blutflecken und Einschusslöcher nur erahnen. Meine Eingeweide wanden sich wie Würmer bei diesem Anblick.

An einer Leitplanke unterbrachen wir unsere Flucht. Die Fahrbahn war gespenstisch leer.
       »Der Autobahntunnel hinter der Brücke«, sagte sie und nahm meine Hand. »Hier sind wir leicht zu entdecken, vielleicht haben sie schon dein Signal bemerkt und wollen wissen, was für einen nächtlichen Spaziergang du hier veranstaltest.«
        Ich sagte nichts, starrte einfach auf den Koloss aus Stahl und Beton vor mir. Dann rannten wir los. Hand in Hand, wie zwei verirrte Kinder, die dem Schrecken des dunklen Waldes zu entkommen versuchten. Der Mond warf seine Lichtreflexion auf unsere geschundene Haut und den rauen Asphalt unter unseren Füßen. Aus dem Nirgendwo drang leise Musik an meine Ohren. Die Melodie kam aus dem Kopfhörer, der immer noch um meinen Nacken lag. Wann habe ich den Walkman wieder angeschaltet?

Die Markierungsstreifen der stillgelegten Fahrbahn zählten die Entfernung zum rettenden Schlupfloch stumm herunter. Das Display des Trackers leuchtete auf und ich warf einen beunruhigten Blick darauf. Das lächelnde Emoji war verschwunden, stattdessen sah mich ein Pixelgesicht mit hochgezogener Augenbraue an. Es war ein deutliches Signal, nun, da ich wusste, dass die Emojis nicht meinen Gesundheitszustand widerspiegelten. Das Herzsymbol, welches meinen Puls anzeigte, raste wild.


Wir hatten die Mitte der Brücke erreicht. Die Fahrbahn führte geradewegs in einen unbeleuchteten Tunnel – ein klaffendes Maul. Nicht einmal hundert Meter trennten mich von der Lücke in die Freiheit. Dem toten Winkel im System, wie sie es genannt hatte. Da hörte ich es – ein anschwellendes Surren. Vertraut und doch angsteinflößend. Reflexartig sah ich auf mein Handgelenk. Ein Emoji mit hoch rotem Kopf starrte zornig zurück.
        »Im Tunnel musst du sofort den EMP auslösen und den Tracker wegwerfen. Halte dich an der Wand bis zur Notausgangstür. Der Tunnelausgang ist dicht, aber die Tür ist nicht verriegelt.«
        »Kommst du nicht mit?«
        Keine Antwort. Nur der Gesang aus dem Kopfhörer, der auf meinem Dekolleté ruhte.

Flüchtig warf ich einen Blick über meine Schulter, doch sie war fort. Ich suchte die Umgebung ab und kam ins Straucheln. Vor kaum einer Sekunde spürte ich noch ihre Hand an meiner, hörte ihre Stimme, roch den Kaffee. Nun lag nur noch das gebastelte Gerät in meiner Hand.

Das Surren war nun bedrohlich nah. Kleine Lichter blitzten auf. Doch ich lief weiter und ließ mich vom rettenden Dunkel des Tunnels verschlucken. Mit zitternden Händen richtete ich das selbstgebastelte EMP-Gerät auf mein Handgelenk und hielt den Atem an. Meine Finger suchten einen Knopf und jähe Panik stieg in mir auf. Sie hatte mir nicht erklärt, wie das Gerät funktioniert! Ist das wirklich nötig?, hauchte eine innere Stimme. Der Auslöser! Ich ertastete Kabel. Meine Fingerspitzen glitten über eine hervorstehende Schraube, die schmerzhaft über meine Haut schnitt. Nervös bestätigte ich den Kameraauslöser.

Nichts geschah.
       Mein Herz krampfte in meiner Brust und Übelkeit stieg in mir auf, doch dann erlosch das leuchtende Display und der Tracker fiel ab.

Mein flehender Blick ging in Richtung Brücke, doch ich sah nur herannahende Drohnenlichter. Wo war sie?

Dann rannte ich los, immer mit einer Hand an der Wand, um die rettende Tür nicht zu verpassen. Der kalte, leblose Beton führte mich immer tiefer ins Dunkel. Das Echo meiner Schritte hallte im Tunnel, wie der Aufmarsch einer Armee. Plötzlich stieß ich gegen ein unerwartetes Hindernis. Noch bevor ich einen Gedanken formen konnte, umschlangen mich zwei Arme wie Stahlseile.
        »Leni?«, entfuhr es mir. Aber die Person antwortete nicht, sondern stieß mich grob zu Boden. Gleißendes Licht ließ mich für einen Moment erblinden.
        »Patient 1307 wurde aufgefunden«, sagte eine kalte Stimme, dicht gefolgt vom leeren Rauschen eines Walkie-Talkies.
       »Sicherstellen. Sind unterwegs.«
       »Verstanden«, sagte die kalte Stimme.

Ich schrie und wand mich am Boden, doch mein Peiniger drückte mich schmerzhaft mit seinem Knie runter und presste erbarmungslos die Luft aus meinem Brustkorb. Das Blut hämmerte in meinen Schläfen.

Motorengeräusche dröhnten verstärkt von den Tunnelwänden. Ratternd kam das Gefährt neben meinen Kopf zum Stehen. Türen wurden aufgeworfen und schleifendes Metall ertönte.
Je mehr ich mich bewegte, desto fester drückte das Knie auf meinen Brustkorb und presste meine Lungen aus, wie zwei labbrige Luftsäcke. Dann rissen mich gleich mehrere Hände empor. Strampelnd, weinend und tretend versuchte ich mich loszureißen. Ein brennender Einstich im Arm.
        »Übertreib's dieses Mal nicht«, sagte eine Frau, »sie soll nur einschlafen. Ich kann nicht noch eine Kartoffel gebrauchen.«
Türen wurden zugeschlagen, dann setzten wir uns in Bewegung. Ich lag an etwas festgezurrt in einem spärlich beleuchteten Laderaum. Mich windend konnte ich einen Arm befreien.
Die Flüssigkeit brannte erbarmungslos in der Einstichstelle. Mit jedem angsterfüllten Schlag meines Herzens bahnte sie sich ihren Weg durch meinen Körper. Meine Finger kribbelten wie elektrisiert und vereinzelt zuckten Muskeln krampfartig in meinem Körper auf. Verdammt! Ich hatte es vermasselt.

Ich spürte das kleine EMP-Gerät in meiner Tasche. Meine Finger fummelten an dem zusammengeschraubten Haufen herum, ertasteten den Draht und die spitze Schraube. Ja, ich hatte es verkackt, doch das würde mich nicht noch einmal passieren. Morgen sicher nicht! Ich wollte mir eine Kerbe in den Oberarm ritzen, wie ein Gefangener in die Zellenwand. Ein Mahnmal - eine Erinnerung!
        Zitternd packte ich die Schraube. Das Mittel vernebelte meine Sinne und mein Vorhaben raubte mir die letzte Kraft. Die Sicht begann zu verschwimmen. Immer wieder klärte sich das Bild vor meinen Augen kurzzeitig und wurde dann erneut trüb. Ich schob meine zerschlissene Sweatjacke zur Seite und befreite meinen Arm. Eine Sekunde, die sich anfühlte wie ein halbes Leben, starrte ich meine Haut an. Über meinen Oberarm zogen sich bereits etliche Striche, dicht an dicht – manche frisch, einige schon fliederblaue Narben. Meine Sicht trübte sich erneut, ob es das Mittel oder meine Tränen waren, wusste ich nicht.
        Jemand legte seine Hand auf meinen Arm. Für einen Moment formten sich die Umrisse vor meinem Auge zu einem halbwegs klaren Bild.
        »Le-ni?«, kam es mir nur mit Mühe über die Lippen. Wie kam sie hier her?
        »Beim nächsten Mal schaffst du es bestimmt«, hauchte sie und streichelte mir über das strohige Haar. »Vergiss nicht, Liebe ist kein Verbrechen!«
        In meinem Kopf tobte ein Sturm aus Fragen und Gefühlen, doch ich war nicht mehr Herrin meines Mundes und schaffte es nicht auch nur noch ein einziges klares Wort zu formen. Ich spürte den durchdringen Schmerz, als die spitze Schraube in meine Haut schnitt.
        Ein letztes Bild blitzte vor meinem geistigen Auge auf. Sie lag in meinen Armen, doch sie lächelte nicht. Blut lief aus ihrem Mundwinkel und meine Arme klammerten sich um sie, schüttelten sie. Und ihre Locken wippten bei jeder meiner Bewegungen.
        Dann wurde es dunkel.

Wie jeden Morgen füllten die bunten Lichter den Himmel über den Hausdächern – ich hätte nie gedacht, dass es das letzte Mal war, bevor die Apokalypse begann ...

G E D A N K E N S P I E LWo Geschichten leben. Entdecke jetzt