16. Tod am Morgen danach

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Er war durch die Jahrhunderte geschlingert, wie ein Stück Treibholz auf dem ewig stetigen Fluss der Seelen. War von einer Aufgabe zur nächsten geeilt, Jahr für Jahr hatte er Fährmann zwischen den Welten gespielt. Er hatte viel gesehen, beinahe alles, was es zu sehen gab. Ab und an hatte er sogar innegehalten, um die Welt zu bestaunen und ihre Wunder. Aber gefühlt hatte er nichts in dieser Welt. All die Jahre nicht.

Bis jetzt.

Es war weit nach Mitternacht und der Tod lag in Tildas Bett. Ihr Kopf auf seine Schulter gelegt, die Haare wie eine düstere Krone wild auf dem Kissen verteilt. Schwarze Linien auf weißen Leinen, duftend nach Blumen, dessen Namen er nicht kannte. Und nach Regen. Er würde ihren Geruch unter Millionen Menschen wieder erkennen, er hatte sich in seiner Nase festgesetzt, eingeprägt für die kommenden, einsamen Jahrtausende.

Und als er so da lag, sie fest umschlossen, da fühlte er es zum ersten Mal: Frieden. Er spürte die Wärme ihres Körpers neben sich, die für ihn so ungewohnt war. Als ließ sie seine Haut kribbeln, an all den Stellen, wo sie sich mit nackter Haut an ihn drängte. Als schlug sein Herz wie wild in seiner eigenen Brust. Wie schön sie doch war, selbst wenn sie schlief.
Stundenlang lauschte er der Melodie des Friedens, während er sie hielt. Doch je näher der Morgen kam, desto lauter wurden sie wieder, die Stimmen in seinem Kopf. Wie Vogelgezwitscher drangen sie in seine Gedanken vor, vertrieben die Nacht und mit ihr den Frieden.

Was tat er noch hier? Warum stand er nicht auf, lief davon? So viele Aufgaben warteten auf ihn. So wenig Hoffnung bestand für sie. Seine Sense hing unheilvoll über ihnen, denn die Stimmen sagten es ihm immer wieder: Noch bevor das Jahr zu Ende ist, wird sie dich hassen lernen! Aus tiefstem Herzen, mit ihrer ganzen, herrlichen Seele. Je höher sie zusammen flogen, je tiefer würden sie fallen.

Der Tod kämpfte gegen die Stimmen an, versuchte jede der kostbaren Sekunden zu genießen. Denn niemals würde einer dieser Momente wiederkehren. Im langen Fluss seiner Existenz würden sie nur in seinen Erinnerungen weiterleben, ihn träumen lassen, wenn er einmal innehielt. Denn alles was sie hatten war endlich. Das war es immer gewesen, hatten sie es beide doch gewusst. Dennoch zögerte er, es zu beenden. Fühlte es sich doch so gut an, so richtig. Auch wenn es das nicht war.
Als sich die Sonne langsam dem Horizont näherte und ihre Strahlen sich über die Erdkrümmung hinaus spannten, verlor er den Kampf gegen die Stimmen. Er küsste ihre Stirn und strich durch ihr wildes Haar, dann kroch er vorsichtig unter der Decke hervor und zog sich an. Er warf ihr einen letzten Blick zu, dann riss er sich los und öffnete leise die Wohnungstür.
Als er über die Schwelle trat, stach etwas in seiner Brust. Einen Moment hielt er inne und holte tief Luft, doch das Stechen wurde nicht schwächer. Mit Erstaunen stellte er fest, dass es sein Herz war, das da schmerzte.

Seltsam, dachte er. War ihm doch bis dahin völlig entgangen, dass er überhaupt noch eines besaß

Tilda und der Tod | ✔️Where stories live. Discover now