Kapitel 1

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Es war ein Fehler. Schlimmer noch, es war sein Fehler.

Aber wie hätte Jisung auch ahnen können, welche Folgen sein Handeln haben würde? Schließlich hat er nichts getan, was man gemeinhin als falsch bezeichnen würde. Oder riskant, oder verwerflich, oder auch nur dumm. Was nichts daran ändert, dass er sich nun dumm fühlt. Naiv. Wie ein Idiot. Wie der allerletzte Hinterwäldler, der gerade feststellen muss, dass es hinter seinem Wald, den er immer als die ganze Welt angesehen hat, noch weitergeht.

Eigentlich hat er sich ja bloß unterhalten.

Ziemlich nett unterhalten.

Zu nett.

So nett, dass er den fröhlichen Erstsemester kurzerhand eingeladen hat, sich bei Gelegenheit doch mal zu ihnen zu setzen. Er hat auf das Angebot mit fast unverhältnismäßiger Begeisterung und einem sehr breiten Grinsen reagiert – ungefähr dem achtzehnten dieser Art seit dem Beginn ihres Gesprächs vier Minuten zuvor. Vier Minuten mochten keine sehr lange Zeit sein, um jemanden kennen zu lernen, aber manchmal klickte es einfach. Das war es jedenfalls, was Jisung gedacht hat.

Zwei Tage später hat er ihn in der Cafeteria wiedergetroffen. Ob er und seine Freunde auch jetzt zu Mittag essen würden? Steht die Einladung noch? Ja, sicher, ein nettes Gesicht in der Runde ist immer willkommen. Das – so sollte Jisung im Nachhinein beschließen – muss der Moment gewesen sein, in dem sich die Schlinge um seinen Hals zugezogen hat. Die Antwort der letzte Nagel zu seinem Sarg. Wobei „der letzte Nagel" vielleicht eine Spur zu dramatisch war – konsequent dieser Analogie folgend gäbe es nämlich bloß zwei Nägel (der erste war natürlich das initiale Aufeinandertreffen mit dem Jungen zwei Tage zuvor) und welcher Sarg wurde denn so unsicher verschlossen?

Jedenfalls steht Jeongin jetzt an ihrem Tisch, im Gesicht das schon bekannte Lächeln – an diesem Punkt sollte er es vielleicht einfach als sein Markenzeichen abspeichern. Ehe Jisung auch nur den Mund aufbekommt, hat er sich bereits vorgestellt, den Stuhl neben ihm herausgezogen und sich darauf fallen lassen.

Jisung beneidet ihn ein bisschen um diese Sicherheit im Umgang mit Menschen, die er ausstrahlt. Sie wirkt nicht gespielt, nicht angestrengt, sie ist völlig natürlich. Kein Vergleich zu ihm, der Minho im ersten Jahr nicht von der Seite gewichen ist (und in einem besonders denkwürdigen Moment sogar auf dessen Fuß gestanden). Es wirkt auch nicht großspurig und angeberisch – paradoxerweise wirkt Jeongin trotzdem schüchtern. Die Art, wie er den Kopf etwas schiefhält, sein Lächeln noch nicht die maximale Voltzahl erreicht hat; seine Hände, die mit dem Reißverschluss seiner Jacke spielen. Was die Tatsache, dass er nun an einem Tisch mit ihm fremden Fünftsemestern sitzt, umso beeindruckender macht.

Außerdem beneidet Jisung ihn um die Tatsache, dass Hyunjin ihn ansieht. Schon seit mindestens ... zehn Sekunden. Oder so. Was ist denn so besonders an ihm? Arme und Beine (jeweils 2), ein Kopf mit Nase, Mund, Augen (2) und Haaren (ziemlich vielen). Ach, und Ohren. Hat er was verpasst? Vielleicht hat Jeongin Schokolade im Gesicht und Hyunjin würde jeden Moment in Gelächter ausbrechen, weil der Fleck wie ein Elefant aussieht. Obwohl das nicht zu ihm passt. Als er das letzte Woche bei Jisung gemacht hat, sind dem immerhin fast anderthalb Jahre Freundschaft vorausgegangen, während ein Fremder es leicht falsch verstehen und verärgert reagieren könnte.

Aber ein Fremder könnte es ja wohl auch falsch verstehen, wenn Hyunjin ihn so lange ansieht.

Hyunjin sieht heute nämlich ziemlich gut aus.

Hyunjin sieht in immer noch an.

In diesem Moment kommt Jisung zum ersten Mal der Gedanke, dass es vielleicht, nur vielleicht, besser gewesen wäre, hätte er Jeongin nicht an ihren Tisch eingeladen.

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⏰ Last updated: Sep 15, 2022 ⏰

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Der Herr der FliegenWhere stories live. Discover now