fünfundzwanzig

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"Und was ich noch zu sagen hab
Dauert viel zu viele Zigaretten
Und eine schlaflose Nacht"

-Alles gut -Heisskalt

♦♦♦


Der Herbst zog vorbei und ging in den Winter über. Die Feiertage rückten näher und meine Eltern trudelten ein, um diese mit uns zu feiern. Heiligabend verbrachten wir alle gemeinsam zu Hause. Es war schön, die gesamte Familie wieder beisammen zu haben. Sogar Noah ließ sich blicken. Seit seiner missglückten Entschuldigung hatten wir nicht ein Wort mehr miteinander gewechselt.

Ich versuchte so gut es ging, mir vor meinen Eltern nicht anmerken zu lassen, wie angespannt die Stimmung zwischen uns war. Wir sprachen nur das Nötigste miteinander, um die Aufmerksamkeit unserer Mutter nicht auf uns zu ziehen. Sie hatte schon immer einen besonderen Riecher, was Streitigkeiten zwischen ihren Kindern anging.

Nach dem Essen und der Bescherung saß ich ein wenig Abseits meiner Familie und beobachtete sie. Es war schön, sie alle so glücklich zu sehen. Vor einigen Tagen hatte ich endlich mit Mama und Papa gesprochen und ihnen alles, was zwischen mir und Leon vorgefallen war, erzählt. Im ersten Moment waren sie etwas sauer, dass ich so lange gewartet hatte. Doch am Ende zeigten sie sich verständnisvoll und waren froh, mich wieder hier zu wissen. Ich genoss die festliche Stimmung und all die Lichter, die meine Familie, wie jedes Jahr, überall im gesamten Haus verteilt hatte. Vor dem großen Terrassenfenster hatten wir den Baum aufgestellt und ganz traditionell erst gestern geschmückt. Durch das gesamte Haus schwebte Tannenduft und der Geruch nach Weihnachtsplätzchen. Ein besinnliches, festliches Gefühl hatte sich in meiner Brust eingenistet. Weihnachten war einer meiner liebsten Feiertage. Zu dieser Zeit kam mir alles ein wenig unwirklich vor. Es war, als würden wir in einer Blase aus Frohsinn leben und für eine Weile die Außenwelt vergessen.

Gerade ließ ich das Gespräch mit meinen Eltern in Gedanken noch einmal Revue passieren, da trat Johannes an meinen Sessel heran. In seiner Hand hielt er zwei Gläser, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Er hielt mir eins der beiden entgegnen. Nachdem ich es ergriffen hatte, stießen wir an, dann ließ er sich auf den Sessel neben meinem nieder.

„Wie geht es Lisa?"

„Gut. Ihr Bauch wächst immer weiter. Ich kann es kaum erwarten, die Kleine in den Händen zu halten", ich konnte hören, wie stolz er war.

„Die Kleine? Es wird ein Mädchen?", stieß ich begeistert aus.

Johannes nickte. Auf seinem Gesicht machte sich ein glückliches Lächeln breit. Ich konnte mich nicht daran erinnern, meinen Bruder jemals so glücklich gesehen zu haben.

„Das freut mich so sehr für euch. Habt ihr schon einen Namen?"

„Wir haben schon ein paar Ideen, aber noch nichts Konkretes."

Ich nahm einen großen Schluck aus meinem Glas und ließ den Blick über unsere Familie wandern.

„Kaum zu glauben, dass nächstes Jahr noch ein weiterer kleiner Mensch bei uns sein wird."

„Ja, das ist wirklich verrückt."

Mein Blick fiel auf Noah, der, wie einen Großteil des Abends, an seinem Handy hing, um beschäftigt zu wirken und Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Er sah zwar besser aus, als beim letzten Mal, doch er war nach wie vor nicht der Alte.

„Habt ihr beide das immer noch nicht geklärt?", fragte Johannes mich.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Irgendwie nicht. Er ist nicht mehr der Noah, den ich gekannt habe."

„Er hat sich verändert, aber er ist kein anderer Mensch, Lin."

Meine Gedanken wanderten zu dem Tag, an dem ich Noah das letzte Mal alleine gesehen hatte. „Da bin ich mir nicht so sicher."

Ich beobachtete Noah, wie er aufstand und durch die Terrassentür nach draußen in den Garten trat.

„Ich finde, du solltest wirklich mit ihm reden. Du bist diejenige, die uns zusammenhält und immer die richtigen Worte findet."

Skeptisch schaute ich ihn an. „Ich weiß nicht."

„Jetzt gibt dir eine Ruck und rede mit ihm", Johannes stieß mich aufmunternd an. Vielleicht hatte er recht. Früher konnte ich die Streitigkeiten meiner Brüder immer am besten schlichten und dafür sorgen, dass sie sich schnell wieder vertrugen. Ihrer kleinen Schwester konnten sie nie etwas abschlagen.

Genervt stieß ich einen Schwall Luft aus, dann folgte ich Noah nach draußen.

♦♦♦

Noah stand auf der Terrasse und blickte in den Garten. Er hatte mir den Rücken zugewandt und schien mich nicht zu bemerken. Ich räusperte mich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, dann trat ich neben ihn.

Er drehte sich zu mir und schaute mich erstaunt an, als er erkannte, wer ihm da Gesellschaft leisten wollte.

„Hi", murmelte ich.

„Hi", er griff in seine Tasche und zog ein Päckchen Zigaretten heraus.

„Gibst du deiner kleinen Schwester auch eine ab?"

Ohne mir zu antworten, hielt er mir eine Kippe hin und reichte mir anschließend sein Feuerzeug.

Ich zündete sie an und atmete den Rauch tief ein, dann ließ ich eine Wolke in die dunkle Nacht aufsteigen.

„Das ist doch alles scheiße", stieß ich aus. Bis eben war ich mir noch nicht sicher gewesenen, wie ich das Gespräch beginnen sollte oder ob ich es überhaupt führen sollte, doch ich ließ mich einfach von meinen Gefühlen leiten.

„Was meinst du?", Noah starte weiter stur gerade aus.

„Diese Situation. Du, ich, einfach alles."

Noah brummte zustimmend.

„Hör zu. Ich kann die ganze Sache nicht so einfach vergessen."

Noah drehte sich zu mir um. Die einzige Lichtquelle, die sein Gesicht erhellte, kam von der glühenden Kippe in seinem Mund. Der rote Punkt sorgte dafür, dass seine Augen leuchteten.

Die Gefühle, die sich in seinen Augen widerspiegelten, kamen mir viel zu vertraut vor. Ich sah dieselbe Einsamkeit, die auch mir viel zu bekannt vorkam. Er wirkte ebenso verloren, wie ich mich fühlte.

„Es tut mir leid", sagte er mit bebender Stimme. Seine Augen glänzten verräterisch.

Ich legte eine Hand auf seinen Arm.

„Ich kann das alles nicht vergessen, aber ich vergebe dir." Denn was ich noch weniger konnte, war, mein Leben lang mit Noah zu streiten und ihn am Ende ganz zu verlieren. Das konnte ich einfach nicht riskieren. Also war es an der Zeit, meinen Stolz herunterzuschlucken und ihm zu vergeben.

Ich machte einen zaghaften Schritt auf ihn zu und schloss ihn in meine Arme. Sein Körper versteife sich, wurde aber sofort weicher, als ich ihn noch ein Stück näher an mich zog.

Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, gingen wir zu der Lounge, die in einer Ecke auf der Terrasse stand und setzten uns. Es war dringend nötig, dass wir uns aussprachen. Zum Glück war es für diese Jahreszeit nicht sonderlich kalt. Die Luft war angenehm mild. Noah und ich waren so in unser Gespräch vertieft, dass wir nicht mitbekamen, wie Henrik und Johannes sich irgendwann zu uns gesellten. Erst als Henrik eine Flasche Gin auf den niedrigen Tisch vor uns stellte, schaute ich auf.

„Mama und Papa sind schlafen gegangen", ließ er uns wissen.

„Rutsch mal", wies Johannes mich an und quetschte sich zwischen mich und Noah auf den Sessel.

„Habt ihr beide jetzt alles geklärt?", fragend sah er zwischen uns hin und her.

Ich nickte und Noah brummte zustimmend. „Wunderbar", sagte er und schlug uns mit den Händen auf die Oberschenkel. „Das müssen wir feiern."

An diesem Abend schauten wir alle zu tief ins Glas. Ich rauchte eindeutig zu viele Zigaretten und wir schwelgten bis tief in die Nacht in Kindheitserinnerungen. Erinnerungen, an eine einfachere, bessere Zeit. Es war fast wie früher. Wir vier, ein eingespieltes Team.


LET LOVE GROWWhere stories live. Discover now