11. Angriff

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Eine rote Sonne erhob sich im Osten und tränkte den gesamten Himmel mit Blut. Als dürstete es Sunna, der Göttin des Lichts, nach purem, frischem Menschenblut. Schäumend streckten sich die Strahlen gen Westen, begierig die Klingen blitzen zu lassen, und die langen Schatten, die sie warfen, waren so schwarz wie die tiefsten Abgründe des Meeres.

Abseits des Styrrasees und abseits der Skaraburg befand sich - am südöstlichen Rande des Mondwaldes - ein moosüberwachsenes Felsgefüge, das einen großen Kreis bildete. Oben auf den Felsen wuchsen sieben uralte Eichen. Nur nach Osten hin war der Kreis geöffnet, weshalb er auch mehr an die Form eines Pferdehufs erinnerte. Und im Osten, hinter dem Nordmeer, lag das alte Sachsenland. Und mitten im Sachsenland, auf einer hochgelegenen Heidefläche, wo lauter Krüppelfichten wuchsen, stand die Irminsul - das größte Heiligtum aller Sachsen. Ein Zwillingsbaum, dessen Stämme in der Mitte verwachsen waren. Man hatte ihn von seinem Blätterschmuck befreit, um ihn vom Kreislauf der Welt loszulösen, und ihn dann komplett mit schwarzer Farbe bemalt. Jeder Sachse musste, wenn er erwachsen wurde, seinen Handabdruck auf die Irminsul setzen. Die Frauen in roter Farbe, die Männer in weißer Farbe. Dieser Handabdruck verschwand, wenn die betreffende Person starb.

Und weil dieses Felsgefüge die Form eines Hufes besaß, das in Richtung der Irminsul geöffnet war, hatten Hengist und Horsa diesen Ort zum Thingplatz erkoren, an dem bei jedem Neumond alle - Männer und Frauen - als Gleiche unter Gleichen beraten und Recht sprechen sollten. Auch die Könige und die Edelinge hatten sich bedingungslos dem Urteil des Thing zu beugen. Daher ließen sie die Regeln des Thing in Runen auf einen Stein meißeln, den sie in der Mitte des Platzes aufstellten. Wer das Thing leitete und das Urteil verkündete, sollte jedes Mal durch Abstimmung entschieden werden, doch fiel die Wahl jedes Mal auf Sibba.

Und in diesem heiligen Hain versammelten sich an jenem Morgen die Krieger und Kriegerinnen. Hämisch grinsend schlichen sich die Sonnenstrahlen durch die Äste und Zweige der Eichen, die den Platz umschirmten. Rowena schmierte ihren Körper so dicht mit pechschwarzer Farbe ein, dass nur ihr Gesicht noch frei blieb. Doch auch dieses überzog sie mit schwarzen, roten und weißen Streifen. Rot für das Blut der Menstruation. Weiß für den Sperma des Orgasmus. Auf dass durch den Tod, den sie über Efrauc bringen würden, dereinst neues Leben entstand.

Genauso bemalten sich auch die anderen Kriegerinnen und Krieger, während Sibba über den Platz schritt und alle Anwesenden mit Distel einräucherte. Dazu wurden Trommeln in vorwärts preschenden Rhythmen geschlagen. Flöten fauchten wie Geistergesänge durch die Luft. Nachdem die Klingen schließlich mit Rosenwasser übergossen worden waren, begaben sich die Kriegerinnen und Krieger in einer großen Prozession zu den Landungsstegen, wo sie in die Boote stiegen. In jedem Boot wurden zwei Lanzen aufgestellt. An einer wehte das Banner von Hengist und Horsa - zwei rote Pferde - und an der anderen wehte das Zeichen der Irminsul - die gespaltene Ing-Rune.

Die Riemen wurden ausgelegt, der Trommler begannen zu schlagen, die Boote setzten sich der Reihe nach in Bewegung - bis sie eine lange Schlange bildeten, die sich zwischen den Ufern der Styrra hindurch schlich. Die Kelten in der Siedlung bei den Bächen kamen herbei, um den Aufbruch mit anzusehen. Und in ihren Gesichtern stand das pure Entsetzen geschrieben, als sie die großen, schlanken Langboote erblickten, voll besetzt mit grimmig bemalten Kriegern und Schildmaiden und voll beladen mit blitzenden Waffen.

Rowena saß ganz vorne, auf dem vordersten Boot, am Bug. Hinter ihr saßen Æska und Nessa. In dem Boot dahinter dann Hengist und Horsa.

Nachdem die Armada die Mündung der Styrra hinter sich gelassen hatte, begaben sie sich in die lebhaften Wogen des Meeres und strebten nach Norden - stets begleitet von der Küstenlinie auf ihrer Linken. Sie passierten die Helithburg und in regelmäßigen Abständen steinerne Forts, die von Römern und Kelten errichtet worden waren - zum Schutz gegen die Überfälle sächsischer Seeräuber.

Das Herz einer SchildmaidWhere stories live. Discover now