𝔼𝕚𝕟𝕤

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»Claire?« Meine Mom hatte sich in der schmalen Vorratskammer vor mir aufgebaut und musterte mich streng. »Ich weiß, dass du keine Lust hast, aber du kannst dich nicht dauernd aus der Affäre ziehen.«

»Tut mir leid«, gab ich ertappt zurück, das Handy notdürftig hinter meinem Rücken verborgen. Mich nervte es tierisch, im Restaurant meiner Eltern mithelfen zu müssen, während jeder meiner Mitschüler im Sommerurlaub zu sein schien. Um wenigstens auf dem neuesten Stand zu bleiben, zog ich mich hin und wieder in einen der Nebenräume zurück. Dort checkte ich dann mein Telefon und textete meiner besten Freundin Megan. »Ich werde mir ab jetzt mehr Mühe geben – versprochen«, schob ich trotzdem pflichtbewusst nach. Im Grunde war mir klar, dass es während der Hauptsession keine andere Möglichkeit gab. Jeder musste mit anpacken. Erst recht seit meine Schwester Danielle für die Aufnahme eines Studiums weggezogen war.

»Danke!« Mom beugte sich zufrieden vor und tätschelte kurz über meine Schulter. Sie wartete mit einem wissenden Blick, bis ich das Smartphone seufzend zurück in die Tasche meiner Schürze gleiten ließ. Anschließend verließ sie mit eiligen Schritten die Vorratskammer, um zurück in die Küche zu hetzen. Einen kurzen Augenblick verweilte ich noch auf der Stelle, bevor ich meine Schultern straffte und mich zurück in den Hauptbereich des Lokals begab.

Die Sommerferien hatten vor ein paar Tagen begonnen, weshalb sich die Zahl der Gäste an manchen Abenden locker verdreifachte. Zusätzlich zu den Stammbesuchern, tummelten sich nun nämlich auch zahlreiche Touristen unter den Gästen. Meine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, Geschirr abzuräumen und die Tische abzuwischen. Gelegentlich half ich auch dabei, Bestellungen aufzunehmen – je nachdem wie wir personell aufgestellt waren.

Wir schlossen meist gegen 22:30 Uhr. Wenn alles gut lief, konnten wir gegen dreiundzwanzig Uhr den Laden abschließen. Manchmal durfte ich ein bisschen früher raus, damit ich wenigstens noch ein paar Minuten meinem Hobby nachgehen konnte. Ich liebte es, zu fotografieren. Wann immer es meine Zeit zuließ, war ich mit meiner Kamera unterwegs. Da unser Lokal direkt an der Promenade des Beaufort River lag, nutzte ich die kurze abendliche Freizeit meist dazu, meine Umgebung in Bildern festzuhalten. Manchmal konnte ich währenddessen beobachten, wie sich das Schwingelement der Woods Memorial Bridge öffnete, um größeren Schiffen die Durchfahrt zu gewähren. Die Beleuchtung der Schiffe spiegelte sich dabei auf faszinierende Weise auf der Wasseroberfläche, was mir schon den ein oder anderen Schnappschuss beschert hatte.

An diesem Abend war ich mehr als froh, das hektische Treiben hinter mir lassen zu dürfen. »Nur eine halbe Stunde, dann bist du wieder hier, verstanden?« Mein Dad war gerade dabei die Rechnungen des Abends abzuheften, als ich an ihm vorbeilief. Er war offensichtlich zu beschäftigt, um überhaupt zu mir auf zu sehen.

»Ich werde pünktlich zurücksein«, versprach ich und entledigte mich zeitgleich meiner Schürze. Dann schnappte ich meine Tasche und passierte die gläserne Eingangstür, um endlich zu verschwinden. Trotz der späten Abendstunden herrschte noch immer eine drückende Außentemperatur von knapp achtundzwanzig Grad. Obwohl ich nur ein dünnes Sommerkleid trug, begann ich bereits nach ein paar Metern zu schwitzen.

Die Sonne war schon lange untergegangen, weshalb die Promenade auf der einen Seite in regelmäßigen Abständen von Laternen erleuchtet wurde. Auf der anderen Seite hingegen reihten sich dicke Steinpfeiler aneinander, welche jeweils durch eiserne Ketten verbunden waren. Wahrscheinlich hatte diese Vorrichtung schon einige Touristen davor bewahrt, angetrunken in den Fluss zu stürzen.

Genau in diesem Moment klingelte mein Handy und ein eingehender Anruf von Megan wurde angezeigt.

»Hey! Kannst du jetzt sprechen?« Sie flüsterte die Worte unnötigerweise in den Lautsprecher, was mich kurz auflachen ließ. Immerhin war eigentlich ich diejenige, die während der Arbeitszeit verstohlen in ihr Telefon nuschelte.

»Ich bin nicht mehr im Lokal«, erklärte ich also schmunzelnd, während ich meinen Weg unbeirrt fortsetzte. »Mein abendlicher Freigang hat gerade begonnen.«

»Du glaubst nicht, wie langweilig es heute war. Ich bin froh, wenn ich wieder bei dir bin.« Megan verbrachte so gut wie immer einen Teil der Ferien in Baltimore. Ihre Großeltern lebten dort, weshalb es sich ihre Eltern nicht nehmen ließen, diesen bei jeder Gelegenheit einen Besuch abzustatten.

»Also, ich würde gerne mit dir tauschen. Alles ist besser, als jeden Abend den Dreck anderer Menschen wegmachen zu müssen.«

»Waren wenigstens ein paar süße Typen unter den Gästen?«, wollte meine beste Freundin daraufhin neugierig von mir wissen. Ich konnte jedoch nicht anders, als meine Augen zu verdrehen. Sie wollte einfach nicht akzeptieren, dass sich mein Interesse an Jungs dezent in Grenzen hielt. Meiner Meinung nach würde sich das wohl erst ändern, wenn mir der Richtige über den Weg lief.

»Megan«, stöhnte ich daraufhin also genervt auf. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich Augen für irgendwelche Kerle habe, wenn ich gerade dabei bin die Essensreste von den Tischplatten zu kratzen?«

»Hallo? Wir sind nach den Ferien endlich Seniors. Es gehört sozusagen zur Pflicht, die Highschool nicht als Jungfrau zu verlassen. Also wird es langsam mal Zeit, dass–«

»Stopp!«, unterbrach ich sie energisch. Mittlerweile hatte ich die Brücke fast erreicht. »Erstens habe ich – deiner komischen Devise nach – noch ein Jahr Zeit und zweitens frage ich mich, wer diese bescheuerte Regel überhaupt aufgestellt hat.«

»Nimm doch nicht immer alles so ernst, Claire«, meinte Megan daraufhin versöhnlich. Tatsächlich war mir bewusst, dass sie diese Äußerungen eher lustig meinte. Allerdings hielt sich darin wohl auch ein Funke Wahrheit verborgen, weshalb mich ihre Anspielungen manchmal nervten.

»Alles gut«, antwortete ich daraufhin betont locker. »Ich bin jetzt an der Brücke und schieße ein paar Fotos. Wir hören morgen voneinander, in Ordnung?«

»Schreib mir einfach, wenn du wach bist und pass auf dich auf.«

»Mache ich. Bis dann.«

Mit diesen Worten beendete ich das Telefonat, ließ das Smartphone zurück in meine Tasche gleiten und zog stattdessen meine geliebte Kamera hervor. Da die Nachtfotografie aufgrund der schlechteren Lichtverhältnisse herausfordernd sein konnte, passte ich als erstes die Belichtungszeit an. Den Blick auf das Gerät in meinen Händen gerichtet, schritt ich langsam den separaten Fußweg der Brücke entlang. Glücklicherweise schienen sich sonst keine Menschen mit mir hier aufzuhalten, weshalb ich keine Rücksicht auf meine Umgebung nehmen musste.

Als ich alle nötigen Einstellungen verändert hatte, führte ich einen Test durch. Dafür stellte ich die Kamera vorsichtig auf dem Eisengeländer ab, richtete den Winkel auf die beleuchtete Uferpromenade und drückte ab.

Unschlüssig betrachtete ich das entstandene Foto und entschloss, noch ein paar Meter weiter in Richtung Brückenmitte zu laufen. Vor einiger Zeit war es mir sogar gelungen, von dort aus einen Papstfinken abzulichten.

Ich hatte den gewünschten Ausgangspunkt fast erreicht, als mir in einiger Entfernung ein scheinbar achtlos auf den Boden geschmissenes Fahrrad auffiel. Verwundert blickte ich mich nach einem möglichen Besitzer um, als ich eine unfassbare Entdeckung machte.

Jemand war am höchsten Punkt der Brücke über das Geländer geklettert. Die Person hatte den Blick nach unten auf das schwarze Gewässer gerichtet. Einzig die Hände, mit welchen er das Geländer hinter sich festhielt, verhinderten einen Sturz in die Tiefe.

Einen Moment lang verfiel ich in eine Schockstarre. Was sollte ich nun machen? Um Hilfe rufen? Wohl eher aussichtslos, wenn man bedachte, dass wir vollkommen alleine auf der Brücke waren.

Besser sofort die Polizei informieren? Allerdings konnte es bis zu ihrem Eintreffen bereits zu spät sein.

Im Geiste ging ich alle Möglichkeiten durch und mein Herz raste unaufhörlich, als ich eine Entscheidung traf.

Who Is Dylan?Where stories live. Discover now