21. Leon - die Nacht der Entscheidungen

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Ich war keine zwei Straßen gefahren, da hielt ich am Straßenrand und atmete erst einmal durch. Immer noch schwebte mir Phils entsetzter Gesichtsausdruck vor Augen und mein Hals wurde eng. Er hatte Angst um mich. Ich war ihm wichtig. Auch wenn es sich auf der einen Seite falsch anfühlte, so konnte ich doch nichts dagegen tun, dass es mir warm ums Herz wurde. Ich konnte seine Angst verstehen, immerhin war da ja auch noch die Sache mit Jannik.

Verdammt. Ich konnte noch nicht zurück, aber ich konnte mich beruhigen. Ich konnte auf mich aufpassen und vor allem konnte ich anfangen mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, statt ständig wütend, um mich zu schlagen. Und ich hatte diese Wut so satt. Die jedes Mal meinte, mein Leben in die Hand zu nehmen und zu kontrollieren.

Egal wohin ich ging, ich hinterließ Chaos, Enttäuschung und Zerstörung. So wollte ich nicht mehr sein! Erneut sog ich Luft in meine Lunge und schloss kurz die Augen. Ich wollte mein Leben wieder in den Griff bekommen. Und was ich wirklich, wirklich wollte, war eine Chance auf eine Zukunft mit Phil und Dante.

Herrgott noch mal, ich wollte ihm ein ebenbürtiger Partner sein und kein weiteres Kind, das er versuchte zu flicken. Ich wollte definitiv keine Arbeit mehr sein für ihn. Keine Last. Ich wollte, dass er mich ansah, und stolz auf mich war, statt sich Sorgen zu machen, wann ich den nächsten Mist baute.

Am besten und vernünftigsten wäre wahrscheinlich, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass es mir gut ginge, damit er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Also griff ich in meine Hosentasche, nur um das Gesicht zu verziehen. Mist. Ich hatte das doofe Handy wohl bei Phil vergessen. Aber noch konnte ich nicht zurück, denn langsam formte sich ein Plan in meinem Kopf. Es gab noch ein paar Sachen zu erledigen, bevor ich zu ihm zurückgehen konnte. Zu ihm und zu Sven. Seufzend schloss ich erneut die Augen, bat beide um Verzeihung und noch etwas Geduld, öffnete sie wieder und machte mich auf den Weg zur ersten Station.

Lächelnd hielt ich vor dem Hotel. Total fasziniert von mir selbst. Ich war völlig ruhig und das, obwohl ich hier war. Obwohl ich wusste, was jetzt kommen würde. Sicherheitshalber atmete ich noch einmal tief durch. Stieg aus dem Auto und umrundete es.

Wie gut, dass Sven immer seine Laufschuhe im Auto hatte. Es hätte bestimmt komisch ausgesehen, wenn ich barfuß die Lobby dieses schicken Hotels betrat. Stattdessen schlüpfte ich in die Schuhe, die etwas zu klein waren und machte mich, nun etwas doch nervös, auf den Weg zu ihrem Zimmer.

Mein Abgang vor ein paar Stunden war kein schöner gewesen. Ich war zwar bei ihr, aber geredet hatte ich nicht. Ich hatte sie angeschrien, nicht zu Wort kommen lassen und dann war ich einfach abgehauen. Also startete ich einen neuen Versuch. Rief mir alle Sachen, die mir Phil diese Woche erzählt hatte in Erinnerung und betrat das Hotel, dann den Fahrstuhl und machte mich auf den Weg nach oben, wo ihr Zimmer lag. Vor ihrer Tür blieb ich stehen. Entspannte meine Muskeln, die sich aus reiner Gewohnheit angespannt hatten, und atmete tief durch. Fühlte, was es mit mir anstellte und lächelte. Das sollte ich echt beibehalten, denn es half mir ungemein ruhig zu bleiben. Jetzt innerlich gestärkt, hob ich die Hand und klopfte.

Zuerst geschah nichts. Dann hörte ich leise Schritte und die Tür wurde vorsichtig aufgezogen. Meine Ma, die kleiner war als ich, hob ihren Kopf und starrte mich fassungslos an. Mehrere Sekunden vergingen, in denen wir uns einfach nur ansahen. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper, sie überbrückte die Distanz und fiel mir um den Hals.

„Was machst du nur für Sachen!", seufzte sie, nur um mich noch fester zu drücken. „Sven hat dir geschrieben.", schlussfolgerte ich richtig und sie seufzte. „Natürlich hat er mir geschrieben." Dann ließ sie mich los, als würde ihr gerade erst auffallen, was sie da tat, rückte wieder von mir ab und richtete ihre Brille. Wieder sahen wir uns einfach nur an. Immer wieder glitt ihr Blick über mich hinweg, bevor auch sie immer noch sichtlich überrascht durchatmete, und fragte, ob ich hereinkommen wollte. Dabei trat sie zur Seite und ich nickte, während ich an ihn vorbeiging und das Hotelzimmer betrat. Sie schloss die Tür und folgte mir.

Mitten im Zimmer blieb ich stehen und wusste nicht mehr recht, wohin mit mir. Es fühlte sich komisch an, hier zu sein. Sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Meinen Anfall heute Abend zählte ich einfach nicht dazu.

„Setzt dich doch", bot sie mir an und setzte sich selbst auf die Kante des Doppelbettes, welches das Zimmer dominierte. Kurz überlegte ich, mich an den Schreibtisch zu setzten, entschied mich aber dagegen, stattdessen setzte ich mich zu ihr aufs Bett. Mit genügend Abstand, so ganz konnte ich dann doch noch nicht aus meiner Haut. Aber ich war hier! Und ich war noch nicht am Austicken. Das wertete ich als gutes Zeichen. Hielt daran fest und blickte hoch in ihre Augen. Nervös fing sie an, hin und her zu rutschen. Ihr war absolut nicht klar, was ich hier wollte. Nach meinem Abgang verständlich.

„Hallo", sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel, um das Gespräch zu starten. Doch ein schüchternes Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor auch sie mein Hallo erwiderte.

„Wie geht es dir?", fragte sie vorsichtig nach und ich zuckte mit den Schultern. „Besser", gab ich zu, weil es der Wahrheit entsprach.

„Wieso hab ihr mich bei Sven gelassen?", stellte ich die Frage der Fragen. Die mich seit Jahren beschäftigte. Ich wusste, dass sie nichts von Small Talk hielt und ich tat es heute auch nicht.

Überrascht flogen ihre Augen immer wieder über mein Gesicht und studierten die Züge. Ich wusste, dass meine Ma autistische Züge aufwies und dass es ihr schwerfiel Emotionen zu lesen, nur vergaß man das sehr schnell im Alltag. Aber jetzt, nach dem ich diese Woche mit den Kindern gearbeitet und sie dabei beobachtet hatte, versuchte ich, mit etwas anderen Augen in dieses Gespräch zu gehen. Ihr nicht jede Aussage als Gleichgültigkeit und Desinteresse meiner Person gegenüber auszulegen.

„Weil es deine Entscheidung war", sagte sie schlussendlich. „Du hast mich darum gebeten", setzte sie hinzu, und schien mich weiterhin zu mustern. Keine meiner Regungen sollte ihr entgehen.

„Ja", seufzte ich. Das entsprach ja auch der Wahrheit. „Ich bin bei Sven geblieben, weil ich gehofft hatte, dass ihr beide wieder zurückkommt", gab ich zu, und schluckte schwer. Das hatte ich noch nie jemanden erzählt, nicht einmal Sven. Wobei ich bei ihm die Vermutung hegte, dass er es insgeheim wusste. „Ihr beide. Zusammen. Zu mir. Damit wir wieder eine Familie sein könnten", versuchte ich zu erklären, weil sie dreinblickte, als würde sie nicht verstehen, worauf ich hinaus wollte. „Oh", machte sie und legte den Kopf schräg. Ich sah ihr direkt an, wie sich ihre Gedanken überschlugen. Es entsprach für sie keinerlei Logik. „Wäre ich mit einem von euch beiden mitgegangen, hätte ich den jeweils anderen enttäuscht. Und so bin ich zu Sven und hatte gehofft, dass ihr beide zu mir kommen würdet", versuchte ich ihr meine damalige kindliche Fantasie zu erklären und nebenbei das Brennen in meinen Augen zu ignorieren. Irgendwo in meinem Inneren hoffte der kleine Leon immer noch darauf.

Eine Weile sagte sie nichts. Schien sich meine Worte immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen. Dann griff sie nach meiner Hand und drückte zu. „Ich versteh'", murmelte sie, aber ich war mir nicht sicher, ob sie es tatsächlich verstand. Diese kindliche Logik, oder besser gesagt Hoffnung war irrational. Und entsprach somit nicht ihren Gedankengängen. „Das hätte nicht funktioniert", sagte sie schlussendlich. Und ich musste tatsächlich lachen. Ich war mir sicher, dass sie jetzt jeden für sie existenten und erdenklichen Lösungsweg durchgegangen war, nur um immer wieder zu derselben Schlussfolgerung zukommen.

„Hat es ja auch nicht", gab ich etwas härter zu bedenken und sie zuckte kurz zusammen. Also atmete ich durch und versuchte mich zu beruhigen. „Mein Traum. Meine Hoffnung war, dass wenn ihr mich genug liebt, ihr zu mir zurückgekommen wärt und wir wieder eine Familie hätten sein können." Wieder schien sie sich meine Worte durch den Kopf gehen zu lassen.

„Und deine aufgestellte Theorie lieferte letzten Endes das Ergebnis, dass wir dich nicht lieben, weil dein Versuch sonst einen anderen Ausgang erzielt hätte", stellte sie ernst fest und ich musste lächeln. Wieder verzog sie fragend das Gesicht. Meine Emotion passte nicht zu ihrem Gesagten. „Ja", erwiderte ich schlicht, weil es der Wahrheit entsprach. Das war lange Zeit für mich die einzige Kernaussage aus dem Ganzen. Sie liebten mich nicht genug, um wieder heimzukommen, und hätte es mich nicht gegeben, wären sie wohl nie so lange zusammen gewesen.

„Aber wir haben dir erklärt, dass unsere Trennung andere Gründe hatte. Und dass sie vor allem nichts mit dir zu tun hatte", erklärte Ma und ich nickte. Natürlich hatten sie, aber das hatte ja nichts an meiner Gefühlswelt verändert. Mein damaliges Ich hatte sich in den Kopf gesetzt, dass eine Beziehung auf Distanz nicht funktionieren konnte, und wenn alle an einem Fleck zusammen kommen würden, wäre vielleicht doch ein anderes Ergebnis hervorgekommen. „Wir wollten dich beide mit uns mitnehmen. Weil wir dich beide lieben", setzte sie hinzu.

„Das war aber nicht das, was ich wollte", sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Nicht das, was ich gebraucht habe. Nach all den Jahren des Raumreisens und der Internate, wollte ich einfach nur einen Platz, wo ich zu Hause sein konnte."

„Deswegen haben wir dich ja auch bei Sven gelassen. Du solltest ein geregeltes Leben führen. Ohne Internat und ohne ständigen Veränderungen. So wie du es immer gesagt hattest", erklärte sie und mir wurde plötzlich klar, dass sie das für mich als besten Weg gesehen haben muss. Bis jetzt war ich immer davon ausgegangen, dass sie es für sich als besten Weg gesehen hatte.

„Ich wollte das nicht mit Sven. Ich wollte das mit dir und Papa."

„Aber das wäre nicht praktikabel gewesen", sagte sie schlicht und zuckte nun selbst mit den Schultern. Sie war mit ihrem Latein am Ende. Ich wollte etwas, was unmöglich war. „Sven war die beste Option", fügte sie hilflos hinzu. „Du hast doch gewusst, dass du jederzeit zu einem von uns hättest ziehen können. Und auch noch immer kannst."

„Ja. Das weiß ich", erwiderte ich schlicht. „Aber jetzt glaub' ich auch, dass Sven die beste Option war."

„Vielleicht solltest du es ihm mal sagen. Er ist sich da nicht mehr sicher", gab sie zu bedenken und ich nickte. Ja, das konnte ich mir gut vorstellen. Er hatte es nicht leicht mit mir. In letzter Zeit schon gar nicht. Und dazu seine eigenen Probleme mit Marek.

Eigentlich waren wir mehr wie beste Freude, und ich war in letzter Zeit ein richtig Schlechter.

„Na gut.", ich erhob mich und verschränkte etwas ungeschickt die Arme hinter dem Rücken. „Danke, dass ich mit dir reden konnte. Und das vorhin ...", dabei wippte ich auf den Füßen. „Tut mir leid."

Auch sie erhob sich und glättete kurz ihre Bluse. „Kommst du morgen Abend zum Essen?", fragte sie, statt auf mein Gesagtes zu reagieren und sah mich aus solch großen Augen an, dass ich nicht nein sagen konnte.

„Bis später, Mama", flüsterte ich etwas rau und ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht.

„Bis später, Leon."

Noch einmal lächelte ich ihr zu und machte mich auf den Weg zur Tür, als mir noch eine Idee kam. Mit dem Griff in der Hand drehte ich mich noch einmal zu ihr um. „Ma. Kannst du bitte Sven anrufen und ihm sagen das alles in Ordnung ist, aber ich noch etwas zu erledigen habe?"

Als sie nickte, schlüpfte ich durch die Tür und machte mich auf den Weg.

Unter VerrücktenWhere stories live. Discover now