Abflug

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Kageyama PoV

"Hast du deinen Reisepass?", fragte Hinatas Mutter aufgeregt. "Ja", antwortete Hinata einsilbig. "Und deine Tickets? Hast du an Kaugummis für den Start gedacht? Und hast du den Reiseführer eingesteckt, den wir dir geschenkt haben?", sprudelte sie weiter. In solchen Situationen wurde mir immer bewusst, woher Hinata seine aufgeweckte Art hat. Jetzt wirkte er allerdings alles andere als aufgeweckt. Eher still und reserviert. "Jaah", antwortete er nun genervt und verschränkte die Arme.

Natsu schniefte herzzerreißend und sofort hellte sich sein Gesicht ein wenig auf. "Natsu... fang jetzt nicht wieder an zu weinen. Ich bin doch nicht für immer weg", versuchte er sie zu beruhigen und nahm sie, wie schon oft an diesem Tag in die Arme. "Aber jetzt siehst du gar nicht, wie ich in der Mittelschule mit meiner Mannschaft gewinne", jammerte sie und drückte sich fest an seine Brust. Er tätschelte ihr etwas den Kopf und sagte: "Noch bist du nicht einmal im Club eingeschrieben."

Sie plusterte ihre Wangen auf und erwiderte: "Na und? Du hast gesagt, wenn man gewinnen will, muss man einfach fest daran glauben!" Er lachte wieder und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel, bevor er sich seiner Mutter zuwandte. Auch in ihren Augen glitzerten jetzt Tränen, die sie schon die ganze Zeit versucht hat zurück zu halten. "Pass auf dich auf, Shoyo", presste sie hervor und nun sah ich, wie auch Hinata traurig das Gesicht verzog und versuchte nicht zu weinen.

"Melde dich, wenn du gelandet bist, ja? Versprich es mir", sagte sie mit Nachdruck und Hinata nickte stumm. Dann löste sie sich von ihm und legte ihm eine Hand an sein Gesicht. "Mein kleiner Junge...", murmelte sie stolz und strich ihm einmal mit dem Daumen über die Wange. "Bis bald", sagte sie und wandte sich ab.

"A-aber mein Flug geht doch erst in zwei Stunden", sagte Hinata irritiert. Sie drehte sich noch einmal um und zwinkerte. "Glaub mir, eine Mutter weiß, wenn sie fehl am Platz ist. Verabschiedet euch in Ruhe", sagte sie und drehte sich wieder in Richtung des Ausgangs. Damit blieben nur noch Hinata und ich an der riesigen Fensterfront des Flughafens, wo ihn bald ein Flugzeug in ein vollkommen unbekanntes Land bringen wird.

Ich trat näher zu ihm heran und nahm ihn, ohne auf unsere Umgebung zu achten in den Arm. Hinata legte seinen Kopf an meine Schulter, drückte sich fester an mich und ich atmete tief seinen Duft ein. Den gesamten Vormittag hatte ich damit verbracht mich weitestgehend für den bevorstehenden Abschied zu wappnen. Ich habe immer wieder das unangenehme Gefühl in meiner Brust ignoriert, welches sich jedoch von Stunde zu Stunde ausgebreitet hatte.

Ich krallte mich jetzt verzweifelt an den kleinen Sonnenschein in meinen Armen und versuchte die Tränen zurück zu kämpfen, die langsam aber sicher in meine Augenwinkel traten. Das konnte nicht sein. Er konnte mich nicht wirklich verlassen.

Hinata sagte gar nichts, sondern vergrub sein Gesicht in meiner Jacke und ich spürte irgendwann, wie er in meinen Armen erzitterte und leise schluchzte. Ich streichelte über seinen Kopf und murmelte leise: "Hey... verteil deine Rotze nicht auf meiner Jacke, du Idiot." Bei diesen Worten schaute er auf und auf sein verheultes Gesicht trat ein fieses Grinsen.

"Ich muss dir doch ein Andenken an mich da lassen", sagte er und ich schüttelte den Kopf, um ihn nur kurz darauf wieder an mich zu drücken. "Deinetwegen heule ich noch", flüsterte ich erstickt und ließ ein kurzes Schniefen vernehmen.

"Vielleicht sollte ich ein Bild davon machen und es Oikawa schicken", murmelte er und hickste kurz, als ein Schluckauf seinen Heulkrampf unterbrach. Ich zog wütend meine Augenbrauen zusammen. "Das wagst du nicht", sagte ich wieder und plötzlich fingen wir beide an zu lachen. Hinata wischte sich mit beiden Händen über seine Augen und ich blinzelte kurz mehrmals um die Tränen zu vertreiben.

"Schreib mir, wenn du landest", sagte ich kurz angebunden. Er nickte und nahm meine Hand. Das kleine Lederarmband mit der Nummer 10 baumelte an meinem Handgelenk und er streifte den Anhänger kurz mit seinem Finger. "Ich will wissen, wie dein erstes Training läuft", sagte er leise und schaute lächelnd auf das Armband.

"Shoyo", murmelte ich und seine Augen blitzten zu mir nach oben. Ich spürte, wie meine Wangen rosa wurden und ich musste meinen Blick verlegen abwenden. "Wie hast du mich gerade genannt?", fragte Hinata grinsend und ich schüttelte den Kopf. "Vergiss es! Selbst schuld, wenn du nicht richtig hinhörst", sagte ich und spürte, wie die Hitze sich bis über meine Ohren ausbreitete.

Hinata ließ ein schallendes Gelächter ertönen und sagte irgendwann: "Schon gut... ich hab dich ganz genau verstanden... Tobio." Mein Kopf fuhr wieder zu ihm herum und ich verlor mich in seinen hellen Augen. Er strahlte mit der hoch aufragenden Sonne draußen um die Wette und ich wusste, wenn er ging, sobald die Sonne unterging... dann würde es in mir genauso pechschwarz sein, wie die Nacht. Meine Güte, seit wann war ich so pathetisch?

"Ich... du musst los...", murmelte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen und er nickte. "Ich weiß", sagte er und drückte sich noch einmal fest gegen meinen Körper. "Schliebedisch", murmelte er in den Stoff meiner Jacke und ich lächelte leicht. Meine Hand fuhr unter sein Kinn und ich drückte sein Gesicht sanft zu mir nach oben.

"Ich liebe dich auch", flüsterte ich ihm leise zu. Am liebsten hätte ich ihn hier und jetzt geküsst und ihm so viel von meiner Liebe gegeben, wie er nur tragen konnte. Doch wir waren immer noch in der Öffentlichkeit und allein der Fakt, dass wir uns so innig umarmten brachte einige ältere Menschen um uns herum dazu tuschelnd die Köpfe zusammen zu stecken. Grundsätzlich war es mir egal, was andere Menschen von mir hielten und ich denke Hinata ging es ähnlich.

Und dennoch haben wir beide noch nie darüber gesprochen. Er schaute mir tief in die Augen und ich sah in ihnen den gleichen Kampf, den ich gerade innerlich focht. "Ich küsse dich, wenn wir uns wiedersehen", flüsterte ich ihm zu. Seine Augen wurden größer und ich sah, wie sie langsam wieder glasig wurden.

"Bis bald", sagte er und seine Stimme brach ein wenig weg. Wir lösten uns, Hinata nahm seinen Rucksack und wandte sich zum gehen. "Hey, Hinata", sagte ich etwas energischer. Er drehte sich noch einmal um und schaute mich verwundert an. "Wehe, du vergeudest deine Zeit dort", sagte ich mit mehr Nachdruck. Bei diesen Worten legte sich ein kämpferisches Grinsen auf sein Gesicht und er sagte: "Wann habe ich jemals meine Zeit vergeudet? Pass auf, wenn ich wiederkomme, werde ich dich besiegen."

Und so wandte er sich ab, reihte sich in die Schlange zur Sicherheitskontrolle ein und wurde bald von der wogenden Masse dahinter verschluckt.

He is my sunrise || Hinata x KageyamaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt