1.1 Ankunft

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»Wir sind gleich da«, durchschnitt Susanne die Stille. Sie drosselte das Tempo des Autos und blinkte nach rechts an, um von der Autobahn abzufahren.

Akin lehnte mit dem Ellbogen gegen die Autoscheibe und beobachtete die vorbeiziehende Landschaft. In der Schwärze des Novemberabends war es schwierig, etwas zu erkennen. Regentropfen prasselten gegen die Scheibe und ließen die Welt außerhalb des Wagens zu undeutlichen Formen verschwimmen.

Das erste Haus stand zwischen hoch gewachsenen Nadelbäumen, die es wie eine schützende Mauer links und rechts vom Eingang einrahmten. Es war groß, mindestens drei Stockwerke hoch, doch seltsamerweise das Einzige weit und breit. Nur riesige Bäume des umliegenden Waldes ragten empor. Das Ortseingangsschild von Friedheim hätte Akin beinahe übersehen, wenn es im Scheinwerferlicht des Autos nicht golden zwischen den dichten Büschen hindurch reflektiert hätte.

»Ziemlich klein«, sagte Akin. »Selbst für ein Dorf.«

Seine Heimat Braunschweig war im Vergleich zu Städten wie Berlin oder Köln zwar kleiner, aber aus mehr als einem Haus hatte es definitiv bestanden. Und so wenig er sich mit den Gepflogenheiten vom Land auskannte: Er hatte mehr erwartet. Mindestens etwas in Richtung Vechelde oder Cremlingen oder der anderen Braunschweiger Vororte.

Susanne stellte die Scheinwerfer auf Fernlicht um, als ihnen kein Auto mehr entgegenkam. Ihre Antwort hätte sie knapper nicht fassen können: »Das war noch nicht alles.«

Dass Autofahrten, insbesondere längere, seiner Mutter auf das Gemüt schlugen, wusste Akin. Dennoch waren ihm solche Momente, in denen die Stille zwischen ihnen wie zähflüssiges Schmieröl hing, unangenehm. Das bemerkte auch Susanne, wie sie wenige Sekunden später mit einem langgezogenen Seufzen bewies. »Ein paar Kilometer weiter hinten ist das Zentrum und dann gibt es noch einige Seitenstraßen, die zu den Häusern von den Grundbesitzern führen.«

»Da müssen dann wir vermutlich hin?«

»Genau.«

Wieder hüllten sie sich in Schweigen. Um dem ein Ende zu bereiten, schaltete Akin das Radio ein. Schon hallte die tiefe Stimme eines Nachrichtensprechers durch den Wagen. Akin schloss die Augen – unsicher, ob ihm die Stille nicht lieber als der Verkehrsfunk war.

»Hier kann es zu Verzögerungen von bis zu zwanzig Minuten kommen. Wir wünschen ihnen eine gute Fahrt. Weiter geht es mit den Zwanzig-Uhr-Nachrichten, zusammengefasst von Monika Engels.«

Eine kurze Melodie ertönte, dann folgte die Stimme einer Frau. »Guten Tag. In der Nähe von Fürstenwalde tauchten vergangenen Monat immer wieder Stecknadeln in Müsli-Schachteln von Supermärkten auf. Ein ähnlicher Vorfall wurde vorgestern von einem Filialleiter in Frankfurt an der Oder gemeldet. Die Polizei vor Ort verdächtigt nun Trittbrettfahrer. Am Alexanderplatz in Berlin...«

Akin drehte das Radio auf lautlos und bedachte seine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen. »Stecknadeln im Essen? In der Nähe von Frankfurt? Das ist aber eine tolle Gegend, in die wir da ziehen. Gibt es vielleicht noch irgendetwas, das ich wissen sollte? Irgendein Kinderschänder auf freiem Fuß oder womöglich ein uralter Dämon, der uns heimsucht?«

»Tut mir leid. Dass der Landtag dort von genmutiertem Supermais gestürzt wurde, habe ich wohl ebenfalls vergessen zu erwähnen, nicht wahr?«, versuchte seine Mutter, die Situation durch einen Lacher zu retten. »Ehrlich, Liebling. Seit wann interessieren dich die Lokalnachrichten? Nicht, dass ich es nicht schön fände.«

Als seine Mutter ihm vor einigen Wochen offenbart hatte, dass sie gemeinsam zu ihrem neuen Freund ziehen würden, hatte er erfolglos seine Bedenken geäußert. Zumindest nachdem ihm aufgegangen war, dass ihre Worte kein Aprilscherz im Herbst waren, sondern ein wenig ausgereifter, dafür unumstößlicher Plan. Anfangs hatte er sich noch gefreut, dass die hässlichen Porzellanfiguren seiner Mutter Stück für Stück von den Regalen in Kartons verschwanden und sie ihm sogar einen eigenen Fernseher versprochen hatte, womit er bei seinen Freunden mindestens eine Woche lang geprahlt hatte.

Komm mit mir nach gesternWhere stories live. Discover now