Blutmond

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„Geh nicht in den Wald, denn es wird schon dunkel...", flüstern mir die Stimmen zu, die aus dem Moos kommen und als Nebelschwaden in den Himmel steigen. Ich höre auf sie, denn ich weiß, dass die Geister des Waldes ihre Augen überall haben, während ich bloß sehe, was sich unmittelbar vor mir befindet.

„Lauf, lauf schnell, denn der Mond geht bald auf...", rufen sie und ich gehorche ihnen, denn sie haben mich noch nie auf falsche Wege geführt.

Es ist immer zum vollen Mond, wenn die Geister des Waldes sich für mich aus ihren Verstecken wagen und zu mir kommen, mich wegdrängen von der moosig feuchten Dunkelheit ihrer Heimat und hin zu den Feldern voll Getreide und Gräsern, die ich selbst mein Heim nenne.

Und alle, die hier oder hier in der Nähe wohnen, wissen, was sie zu tun haben, wenn der Mond hell leuchtend und tellerrund über ihnen steht. Sie schließen ihre hölzernen Fensterläden und versperren ihre Türen von innen. Sie zünden warme Feuer an und singen und beten die ganze Nacht hindurch, dass er sie verschonen möge.

Er hat ihnen noch nie etwas getan. Aber sie fürchten ihn dennoch. Erzittern bei jedem qualvollen Schrei, den er von sich gibt und fahren in ihren verletzlichen Körpern zusammen, wann immer der Wind an ihren Häusern rüttelt.

Immer am Tag darauf muss ich zurück an den Ort, wo die Geister mich gefunden haben und ihnen kleine Opfergaben hinterlassen, um nicht auch sie gegen uns zu erzürnen. Ich schenke den Geistern im Moos Wasser und denen in den Bäumen Samen, auf dass der Wald niemals eingehen und sie für immer in seinen Tiefen verborgen wabernd ihr Wesen treiben mögen. Auf dass sie uns noch lange beschützen mögen.

Doch ich möchte nicht länger eine von ihnen sein. Eine von den Fürchtenden. Eine von den verängstigten Menschen. Eine von den dumm Glaubenden. Ich möchte wissen wer dort im Wald ruft. Und ich werde gehen, ihn zu finden.

Diesen Mond noch.

Es scheint mir wie eine Ewigkeit. Die Zeit, welche in langsamen Tropfen verrinnt bis die hauchdünne Sichel aus flüssigem Silber ausläuft und zu der vollmundigen Scheibe wird, auf die ich kaum noch zu warten vermag.

Und dann scheint die Sonne der Nacht endlich vollkommen und glühend kalt über mir. Ich ziehe mir ein Tuch über die Haare und knote es unter meinem Kinn fest, wie es üblich ist unter den Leuten meiner Heimat und dann raffe ich meine Röcke und mache mich auf durch die nasskalten Halme der Wiesen, die vor kurzem erst in die Höhe geschossen sind und hin zu der dunklen Wand aus Laub und Nadeln.

Am ersten Baum des Waldes halte ich inne und klopfe dreimal gegen die Rinde. Nebelschwaden steigen aus der Erde hervor und grüßen mich. Nun wissen sie, dass ich ihr Reich betreten habe und dass ich es nicht verlassen werde, ehe ich gefunden habe, wonach ich suche. Mögen sie mir vorauseilen und ihrem Meister berichten, dass ich komme ihn zu sprechen oder auch nicht. Ich habe nur ein Ziel: Zu sehen, was ich bisher nur zu hören vermocht hatte.

Ich bin nicht weiter gelaufen als drei Mal die Strecke von Rand des Waldes zu meinem Heim, als ein Tümpel vor mir zwischen den Stämmen knorriger Kastanienbäume erscheint. Auf dem sumpfigen Wasser platziert sind in ästhetischer Enge ein paar unschuldiger Seerosen; drapiert auf den Tellern ihrer grünen Blätter. Ich bin froh, Wasser gefunden zu haben, denn den Vorrat aus meinem eigenen Beutel habe ich dem Wald geschenkt, nun kann ich mir im Gegenzug von ihm nehmen, was ich brauche.

Das Wasser ist klar, kalt und erfrischend in meinem Gesicht und auch in meiner Kehle. Ich möchte mir noch mehr schöpfen, meinen Durst stillen, und hebe die Hände erneut zur Schale geformt ins Wasser, doch als ich sie zu meinen Lippen führen möchte sind sie rot. Erschrocken öffne ich sie, um das blutende Wasser von mir zu stoßen und in energetischen Spritzern ergießt es sich über meinen weiße Bluse und meinen Rock und hinterlässt sein Mal darauf.

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