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Samuel stand etwas erhöht am Ende des Saales im Rudelhauses an einer großen Tafel. An den Wänden hingen die Portraits der vergangenen Alphas. Seit nunmehr 15 Jahren hing direkt hinter seinem Stuhl auch sein eigenes Bild. Der Maler hatte es angefertigt, nachdem er den Posten des Alpha von seinem Vater übernommen hatte, der in der letzten großen Kriegswelle im Kampf getötet worden war - nur wenige Tage nach der Geburt seiner Enkelin Tia.

Der Rudelführer ließ den Blick über die vielen Bilder gleiten. Mit nur etwas über 30 Jahren war er mit Abstand der jüngste Alpha in der Geschichte. Ein weiterer Beweis dafür, dass der Krieg schon zu viele sinnlose Opfer gefordert hatte.

Das abendliche Zwielicht wurde von Fackeln vertrieben, die in regelmäßigen Abständen in den Haltern zwischen den Bildern angebracht waren.
Nach und nach betraten alle Wölfe im wandelfähigen Alter den großen Versammlungsraum und nahmen an den Tischen Platz. Obwohl die Stimmung durch die Trauerfeier am Mittag gedrückt war, erklang lautes Stimmengewirr durch den Saal, das noch lauter wurde, je mehr Wölfe hinzukamen.
Geduldig wartete der Alpha ab, bis alle Platz genommen hatten. Immer mehr Wölfe wandten ihren Blick ihrem Anführer zu und das beständige Gemurmel kam zum Erliegen.
Als schließlich Ruhe eingekehrt war, schloss Valentin die große Flügeltüre und trat, den Brief des Vampirkönigs in der Hand, neben seinen Anführer.

Hochaufgerichtet stand er schließlich neben Samuel. Wie dieser hatte er die dreißig noch nicht lange überschritten, doch anders als der ehemalige Alpha war sein Vater noch am Leben.
Allerdings hatte der alte Beta freiwillig den Posten an seinen Sohn abgegeben.
„Der Alpha braucht einen Beta an seiner Seite, dem er vertraut und mit dem er sich wortlos versteht." hatte er erklärt und dabei darauf angespielt, dass die beiden jungen Männer seid Kindertagen beste Freunde waren.
„Natürlich werde ich euch mit meinem Rat zur Seite stehen, wenn ihr ihn braucht. Aber ich bin mir sicher, dass die Mondgöttin euch führen wird."

Valentin lächelte, als er seinen Vater ganz in seiner Nähe am Tisch sitzen sah. Von ihm hatte er die rehbraunen Haare geerbt, doch anders als bei diesem, dem sie in leichten Wellen bis über die Schultern hinunter fielen, hatte er seine Haare auf  etwa einen Zentimeter gekürzt.
Der Beta blickte auf, als sein Freund zu sprechen begann.

„Heute haben wir unsere Kameraden betrauert. Wir haben unseren Söhnen und Töchtern, unseren Vätern und Müttern und unseren Freunden die letzte Ehre erwiesen. Doch jetzt ist es an der Zeit, nach vorne zu blicken. Nicht mehr lange und der Vollmond wird am Himmel erstrahlen. Wie ihr alle wisst, sind die Tage um den Vollmond die Zeit, in der die Vampire uns nicht angreifen. In dieser Zeit fürchten uns die Blutsauger zu sehr. Deshalb ist jetzt der Moment gekommen, unser weiteres vorgehen zu planen."

Zustimmendes Gemurmel hallte durch den Saal. Erneut wartete Samuel ab, bis sich der Aufruhr wieder gelegt hatte.
„Doch bevor wir unsere nächsten Schritte planen, möchte ich euch eine Information nicht vorenthalten."
Blind streckte er die Hand aus und ließ sich von Valentin die Pergamentrolle reichen.
„Erneut hat uns der König der Vampire einen Brief geschickt. Dieses Mal direkt in unser Dorf, was allein schon sehr bedenklich ist."
Noch während der Alpha sprach, rollte er das Papier auseinander.

„Valentin und ich wissen nicht wirklich, auf was genau er sich bezieht, doch lehnt der König es in seinem Schreiben ab, sich uns zu unterwerfen."
Verwirrt sahen die Rudelmitglieder ihn an, bis sich schließlich ein älterer Mann zu Wort meldete. „Als ob wir das wollen würden. Die Blutsauger sollen einfach nur ihre Angriffe einstellen und uns in Frieden leben lassen. Immerhin waren sie es, die den Krieg damals begonnen haben. Das wissen wir alle. Also liegt es auch bei ihnen, ihn zu beenden."
Zustimmendes Gemurmel erklang im Raum doch dieses Mal stoppte der Alpha die Diskussionen sofort.

„Und genau das ist der Grund, warum ich euch überhaupt von diesem Schrieb erzähle, Sorin. So etwas Ähnliches will der Herrscher der Blutsauger uns anbieten. Doch seine Bedingungen stehen für mich im Grunde nicht einmal zur Diskussion. Er bietet an, UNSERE Kapitulation anzunehmen. Im Gegenzug will er uns ein festes Gebiet zuweisen, in dem wir dann angeblich in Frieden leben dürfen."
Ein Sturm der Entrüstung brandete auf, an dem sich selbst der ältere Wolf von zuvor beteiligte.
Dieses Mal ließ Samuel die Diskussionen wieder zu.

Zufrieden beobachtete er, dass scheinbar keines seiner Rudelmitglieder dieses Angebot auch nur annähernd in Betracht zog.
„Das ist doch kein Friedensangebot", entrüstete sich Sorin.
„Wir wären Gefangene in unserem Wald", bestätigte ein Jungwolf.
Valentin nickte. „Richtig, Noah. So sehen wir das auch. Wir wären frei und zugleich doch nicht frei. Daher stand zumindest für uns bereits fest, das Angebot auszuschlagen. Doch der Krieg geht bereits so lang, dass wir die endgültige Entscheidung nicht alleine Treffen wollten."

Samuel richtete sich hoch auf und ließ seine Alphaaura den Saal durchdringen.
Sofort lagen aller Augen auf ihm.
„Wir werden daher jetzt über dieses ,Angebot' abstimmen und erst danach die weiteren Schritte planen", erklärte er.
„Wer von Euch dafür ist, das Angebot des Vampirkönigs anzunehmen, zu kapitulieren und sich ein Waldgebiet zuweisen zu lassen um dort in Frieden zu leben möge sich jetzt melden."

Prüfend ließen die beiden Rudelführer den Blick über die Reihen gleiten. Nach kurzem Zögern meldeten sich zwei ältere Wölfe.
„Wir sind alt. Unser ganzes Leben kämpfen wir bereits in diesem Krieg. Wir wünschen uns einfach nur Frieden. Egal zu welchen Bedingungen."
Samuel nickte. „Wer ist GEGEN dieses Angebot?"
Sofort gingen alle restlichen Hände in die Höhe.

„Eure Entscheidung ist eindeutig. Wir werden das Angebot ausschlagen. Was euch betrifft, Elias und David: wenn es euer Wunsch sein sollte, werde ich den Vampirkönig fragen, ob er bereit ist, auch nur euch beide in Frieden ziehen zu lassen. In dem Fall müsstet ihr allerdings das Rudel verlassen. Ansonsten stelle ich es euch frei, euch aus den Kampfhandlungen zurück zu ziehen. Ihr habt lange Jahre treu in diesem Krieg gekämpft und das bereits für meinen Vater und auch dessen Vater. Ihr habt eure Pflicht erfüllt. Wir werden das später zusammen besprechen."

Unterdessen tigerte Tia frustriert vor dem Rudelhaus auf und ab.
„Das ist einfach nur ungerecht, Joran. Einen Monat später und ich hätte ohnehin dabei sein dürfen. Statt dessen hocken wir hier mit den Kindern und Halbwüchsigen zusammen und sind zum Nichts tun verdammt."
Knurrend stellte sie sich auf die Zehen und versuchte einen Blick in das Gebäude zu werfen. Doch in weiser Voraussicht hatten die Erbauer des Rudelhauses das Gebäude so errichtet, dass man von außen nicht hinein sehen konnte. Mit Sicherheit war Tia nicht die erste frustrierte Halbwüchsige, die versuchte auf diese Weise etwas zu erfahren.

Und als Halbwüchsige galt sie, bis sie sich zum ersten Mal wandeln würde - egal ob dies nun noch ein Jahr, einen Monat, eine Woche oder gar nur einen Tag dauern würde. Die Regeln waren eindeutig und es gab keine Ausnahmen.
Joran zuckte die Schultern. „So sind nun mal die Regeln. Es ist doch nur noch ein Monat, dann sind wir auch dabei."

Tia brummte unzufrieden und band sich ihre langen, fast weißen Haare in einen engen Zopf zusammen. „Du bist mal wieder viel zu angepasst. Noah wäre bestimmt auf meiner Seite gewesen. Aber der hat ja das Glück gehabt, sich gestern zum ersten Mal zu verwandeln. Ich wünschte wirklich, ich dürfte auch schon kämpfen. Dann würde ich es diesen elenden Blutsaugern so richtig zeigen.

Aber uns sagen sie ja nicht einmal etwas. Sie behandeln uns wie kleine Kinder. Dabei sind wir doch schon fast erwachsen. Wie sollen wir nächsten Monat vernünftig mitkämpfen, wenn sie alle Informationen vor uns zurück halten?"
Joran grinste und klopfte seiner Freundin besänftigend auf die Schulter.

Sie waren genau gleich alt, am selben Tag geboren und nur wenige Stunden auseinander.
Vom ersten Tag an waren sie gemeinsam aufgewachsen, hatten miteinander gelernt und trainiert und waren schon früh beste Freunde geworden, die füreinander einstanden und sich halfen, wo es nur ging.
Doch während Tia eher aufbrausend und oft unvernünftig war, glich Joran seine Freundin aus und war der Ruhige und Vernünftige, der Besonnene von den beiden.

„Wenn es soweit ist, werden sie uns schon alles sagen, was wir wissen müssen, Tia."
„Pah..." Tia winkte ab.
„Ich habe eine bessere Idee."
Skeptisch hob Joran die Augenbraue. Er kannte die impulsiven Ideen seiner Freundin nur zu gut.
„Ich werde selbst Nachforschungen anstellen. Und wenn du dich traust, kannst du mir ja helfen. Ansonsten kann ich auch gerne die Anderen fragen, ob sie mir helfen wollen. Die machen bestimmt begeistert mit. Keinem von den Halbwüchsigen gefällt es, zur Untätigkeit verdammt zu sein."

Joran unterdrückte ein Seufzen.
„Einverstanden. Ich helfe dir. Dann kann ich dich wenigstens etwas einbremsen. Aber lass uns die Anderen außen vor lassen. Es reicht, wenn wir Ärger bekommen."
Erneut winkte Tia ab. „Dieses Mal wirst du mich nicht bremsen müssen. Das verspreche ich dir. Was soll schon groß passieren, wenn wir einfach nur ein bisschen die Augen und Ohren offen halten? Und Ärger werden wir bestimmt auch keinen bekommen." 

Die Julius Chroniken - Teil 1: Die ProphezeiungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt