11/Welten zwischen uns

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David

Heute will Marina für ein Gespräch nach Hause kommen.

Obwohl ich unendlich erleichtert bin und mich sehr freue, dass ich meine Frau und meinen Sohn gleich wieder sehen werde, trage ich die Last, die ich mir erst vorgestern aufgeladen habe, als ich mit Vanessa geschlafen habe, auf den Schultern. Sie erdrückt mich beinahe und ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen meiner Familie gegenüber.

Aufgeregt tigere ich im oberen Stockwerk meines Hauses herum, während ich dabei immer wieder auf meine Armbanduhr schiele. Marina wollte schon vor einer halben Stunde hier sein, hoffentlich hat sie es sich nicht wieder anders überlegt. Wir müssen unbedingt miteinander reden, zu viel ist in den letzten Wochen passiert und ich wünsche mir so sehr eine Aussprache mit meiner Frau. Außerdem vermisse ich meinen Sohn wirklich sehr.

Tatsächlich steht Marina eine Viertelstunde später scheu im Wohnzimmer, Jannes hat sich gleich nach der Begrüßung in meine Arme verkrümelt und macht jetzt keinerlei Anstalten mehr, sich in nächster Zeit daraus zu lösen. Unsicher schiele ich mit meinen blaugrauen Augen zu Marina hinüber, die neben dem großen Wohnzimmerschrank steht und sich scheu im Raum umzusehen scheint.

Irgendjemand von uns beiden muss den Anfang machen.

Das hier ist eine so groteske Situation. Obwohl ich mir den ganzen Morgen vorgestellt habe, was genau ich zu Marina sagen will, wenn sie mir endlich wieder gegenüber steht, bringe ich jetzt, da sie tatsächlich hier ist, kein einziges Wort über meine Lippen. Normalerweise ist Marina neben Papa, die eine Person, mit der ich über alles reden kann, die mich auffängt, wenn es mir schlecht geht und die sich nie gescheut hat, mir einen Rat zu geben, wenn ich verzweifelt war. Wir haben uns immer wie blind verstanden, aber jetzt scheinen Welten zwischen uns zu liegen.

Marina scheint ähnlich zu denken wie ich, sie streicht sich immer wieder durch die braune Lockenmähne, als könne sie so die Unruhe verscheuchen, die ich in ihrem Gesicht ablesen kann, von Zeit zu Zeit kaut sie nervös auf ihrer Unterlippe herum und ihr Blick irrt durch das Wohnzimmer, bleibt überall hängen, nur nicht in meinem Gesicht.

Ich will nicht wahrhaben, wie weit Marina und ich uns voneinander entfernt haben, aber da scheint ein unüberbrückbarer Graben zwischen uns gegraben worden zu sein, der es uns unmöglich erscheinen lässt, ein vernünftiges Gespräch miteinander zu führen.

Und dummerweise scheint er immer tiefer zu werden...

Trotzdem will ich endlich den ersten Schritt wagen. Ich will ihr von meinen Gefühlen erzählen und davon, dass Mama neulich unerwartet in Paps und meinem Leben aufgetaucht ist...Und ja so hart wie es klingt, aber ich will ihr auch von meinem Fehltritt mit Vanessa erzählen. Ich weiß, dass sie danach wahrscheinlich zusammenbrechen wird, dass sie wieder davon laufen wird und möglicherweise nie mehr wiederkommen wird, aber ich kann und ich will ihr diese Sache nicht verschweigen. Dazu liebe ich Marina viel zu sehr!

„Ich gehe seit gestern zu einer Selbsthilfegruppe", dringt Marinas leise Stimme in meine Ohren. Mein bereits leicht geöffneter Mund klappt wieder zu und ich versuche für einen Moment meine Gedanken zu sammeln, ehe ich wieder zu Marina schaue. „Ich hoffe, dass mich der Mut nicht wieder verlässt...Es hat mir gut getan, David. Ich bin nicht alleine mit diesem schrecklichen Verlust. Ich meine, da sind andere Betroffene und..." Sie hat sich ein paar Schritte in meine Richtung bewegt und ich kann jetzt ihr Parfum riechen, das sie immer so gerne trägt. Ich habe den Namen davon längst vergessen, obwohl sie mir ihn immer wieder in Erinnerung ruft, damit ich an Weihnachten oder an ihrem Geburtstag ja mit dem richtigen Duft ankomme. Für einen kurzen Moment stockt mir der Atem, weil ich eine Gänsehaut bekomme. Marina ist mir verdammt nah und trotzdem so weit weg von mir. Ich ignoriere das Trommeln meines Herzens. „Ich wünsche mir doch nur, dass wir bald wieder eine Familie sein können, David."

„Das ist eine gute Nachricht. Ich bin sehr stolz auf dich, Marina", presse ich mühsam hervor. Ich bin unendlich stolz auf sie, ja das bin ich wirklich. Trotzdem würde ich meiner Frau jetzt am liebsten alles ins Gesicht sagen, alles über den Schmerz, den ich in meinem Herzen trage, über die Schuld, die ich darin fühle und über die Sehnsucht nach ihrer Nähe und ihrer Fürsorge. Ich will sie konfrontieren, warum sie die Selbsthilfegruppe ohne mich aufsucht, bin mir aber gleichzeitig bewusst, dass sie ihre Gründe dafür haben wird. Ich will sie anschreien, warum sie mich aus ihrer Trauer ausschließt, stattdessen bleibe ich still. Ich bleibe still, weil ich merke, dass ich Marina die Wahrheit nicht sagen kann. Zumindest jetzt noch nicht. Sie versucht gerade ihr Leben wieder in Bahn zu bringen und ich kann ihr den Weg dorthin nicht versperren. Es schmerzt furchtbar, dass sie mich aus diesem Prozess auszuschließen scheint, aber ich versuche ihre Entscheidung zu akzeptieren.

„Es tut mir leid, dass ich dir unterstellt habe, dass du froh darüber bist, dass wir das Baby verloren haben", sagt sie zögerlich. Wahrscheinlich weil da nicht mehr von mir kommt, aber es fällt mir verdammt schwer ihr gegenüberzustehen und zu wissen, dass ich nicht mehr die Unschuld bin, die sie in mir sieht. Ich kann ein Glitzern in ihren wunderschönen Augen aufblitzen sehen. Mühselig versucht sie vor mir nicht in Tränen auszubrechen, für einen Moment dreht sie sich zur Seite, damit ich ihr nicht mehr ins Gesicht schauen kann. Ich sehe ihr Zittern trotzdem.

Wie sehr ein Schicksalsschlag die Person von dir entfernen kann, die dir normalerweise am nächsten ist. Ich realisiere, dass Marina und ich noch lange nicht so weit sind, wieder normal miteinander umgehen zu können. Sie braucht den Abstand zu mir.

Ich bewege mich mit meinem Sohn auf den Arm in Marinas Richtung. Ich kann es nicht unterdrücken, ich brauche diese Nähe für den Moment. In ein paar Minuten wird sie wieder gehen und mich alleine zurücklassen und ich will sie einfach nur halten, meinen Herzschmerz damit für ein paar Sekunden stillen. Sie flüchtet nicht vor mir, sondern lässt es zu, dass ich sie mit meiner freien Hand in meine Arme ziehe, während Jannes vergnügt gluckst, weil wir uns alle in den Armen liegen. Marina streichelt mir sanft über den Rücken. Ich kann spüren, dass sie sich um mich bemüht, dass sie die Nähe zu mir genießt, trotzdem weiß ich, dass sie und Jannes wieder gehen werden. Es muss so sein. Ich habe es nicht einmal verdient, dass sie mir diese Liebe und Zuneigung schenkt, wo das alles ist, was ich eigentlich brauche.

„Ich habe es versucht, aber ich bin noch nicht soweit", wispert sie mir ins Ohr, jetzt versteckt sie ihre Tränen nicht mehr. Sie rinnen ihr über die Wangen und tropfen auf mein T-Shirt, in welchem sie ihr Gesicht versteckt.

„Ich weiß...", murmele ich dicht an ihrem Haar, während eine einsame Träne meine Wange hinabkullert. „Ich weiß, Süße."

In Your Arms (Band 1)Where stories live. Discover now