16/Die Wahrheit

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Jetzt

David

Ich habe meine Mutter so viele Jahre lang verurteilt, als sie damals einfach aus unserem Leben verschwunden ist, weggerannt ist vor Papa und mir, aber heute realisiere ich, dass ich kein Stück besser bin als sie. Es ist schon das zweite Mal, dass ich einfach abgehauen bin. Das erste Mal bin ich davongelaufen, als mir die ganze Situation mit Marina und Mama über den Kopf gewachsen ist. Und gestern bin ich auch wieder davon gerannt, anstatt die Sache mit Papa und Vanessa gleich zu klären.

Ich bewundere meinen Vater sehr. Er hatte gestern den Mut mir gegenüber zu treten, auch wenn es verdammt schwer für ihn gewesen sein muss. Ich muss unbedingt mit ihm und auch Vanessa sprechen, aber das muss warten. Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass ich Marina die Wahrheit sage.

Ich fahre mir mit der linken Hand nervös durch die Haare, meine rechte Hand ist in meiner Hosentasche vergraben. Kaugummikauend warte ich darauf, dass die Haustüre vor der ich gerade stehe endlich geöffnet wird. Mein Herz schlägt heftig gegen meinen Brustkorb. Zittrig nehme ich einen Zug von der angenehmen Abendluft, ehe ich sie wieder ausatme. Zumindest für einen kurzen Moment hat es mich beruhigt, aber die Nervosität und Furcht gewinnt schnell wieder an Überhand.

Mein Handy in meiner linken Hand zittert und ich werfe einen kurzen Blick darauf. Eine WhatsApp von Hendrik wird auf dem Bildschirm angezeigt.

„Du kannst mich immer anrufen, wenn du etwas brauchst oder einfach nur quatschen möchtest.

Caroline hat eine Überraschung für mich. Ich bin echt gespannt.

Viel Glück mit Marina! Sie wird dir verzeihen, weil sie dich abgöttisch liebt. Wetten?

Wenn ich in Deutschland wäre, würde ich dir trotzdem in den Arsch treten.🐒

Hau rein, Alter"

Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Das ist so typisch Hendrik! Vor allem das bescheuerte Affensmiley.

„Hallo...David." Mein Herz rutscht mir in die Hose und das Lächeln sackt in sich zusammen, als ich die eiskalte, aber auch etwas hämische Stimme meiner Schwiegermutter höre. Ich war auf diesen Moment gefasst, dass dachte ich zumindest. Schließlich habe ich fast die ganze Nacht wachgelegen und überlegt wie ich mich verhalten soll, wenn es wieder Selina ist, die mich in Empfang nimmt. Aber jetzt sind plötzlich alle Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte aus meinem Gedächtnis gelöscht und ich fühle mich einfach nur wieder so verdammt klein.

Es bringt alles nichts, ich muss das hier jetzt durchziehen. Ich werde heute nicht davonlaufen. Es ist wichtig, dass ich Marina gestehe, dass ich sie betrogen habe. Es ist der falsche Zeitpunkt, aber für solch ein Geständnis gibt es den richtigen einfach nicht. Ich muss damit rechnen, dass ich meine Familie verlieren werde, aber nichts zu unternehmen ist auch keine Lösung, zumindest nicht auf Dauer.

Vielleicht finden wir irgendwann eine Lösung...

„Ich muss mit meiner Frau sprechen, Selina", bringe ich schließlich zittrig hervor und fokussiere mich wieder ganz auf mein Vorhaben.

Selina schaut mich für einen Moment nur abwertend an, presst sich die schmalen Lippen aufeinander, als wolle sie ein paar Worte daran hindern aus ihrem Mund herauspurzeln zu wollen. Ihre braunen Augen fixieren mich, scannen mich von oben bis unten ab und ich fühle mich mehr als unwohl. Es wäre mir sehr viel lieber, wenn Selina eine andere Augenfarbe hätte, als ihre Tochter. Sie macht ein paar schnippische Bemerkungen zu meinen mehr oder weniger ungekämmten Haaren, dem kleinen Fleck, der sich auf meinem T-Shirt befindet, weil ich dort etwas Soße verkleckert habe und das dummerweise nicht gesehen habe und den ihrer Meinung viel zu kurzen Shorts. Erst dann antwortet sie auf meine Frage.

„Du hast dich seit Wochen nicht bei Marina und Jannes gemeldet. Wieso gerade jetzt?" Der Vorwurf in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.

Ich weiß welche Genugtuung es für Selina ist, dass ich mich nicht bei meiner Familie gemeldet habe. Sie sieht sich mit Sicherheit darin bestätigt, dass ich ein unerzogener Bengel bin, der sich nur um sich selbst schert.

„Weil ich... Ich...", stottere ich unbeholfen, was meinem Schwiegermonster wieder ein hämisches Grinsen auf die Lippen zaubert.

„Mama, bitte lass David ins Haus." Ich zucke zusammen, als ich Marinas Stimme höre. Sofort fühle ich Geborgenheit, Liebe, Glück und gleichzeitig Schuld, Trauer und einen tiefen Schmerz. Unsicher trete ich ein, nachdem Selina mich mit einem tiefen Seufzer und einer wenig herzlichen Geste ins Haus bittet. Ich bleibe im Eingangsflur stehen. Die Wände schmücken noch immer die gleichen Kindheitsbilder von Marina und Samuel, die schon ihren Platz dort hatten, als Marina mich das erste Mal mit zu ihren Eltern genommen hat. Ich blicke in das unbeschwerte Lachen meiner sechsjährigen Frau, die stolz ihre blaue Schultüte auf der ein Delfin zu sehen ist, in die Kamera hält. Neben ihr steht Samuel, der just in dem Moment, als das Bild aufgenommen wurde, seiner kleinen Schwester die Zunge rausstreckt.

„David", wispert Marina. Mir war nicht klar, dass sie mir so nahe gekommen ist, aber sie steht jetzt direkt vor mir. Selina ist wahrscheinlich schon längst in ein anderes Zimmer verschwunden und darüber bin ich sehr erleichtert. Das Marina mir so nahe ist, macht mich furchtbar nervös. Ich atme ihren vertrauten Duft ein, den ich immer so schwer beschreiben kann, es ist aber auch egal. Ich liebe ihn einfach, so wie alles an ihr. Ich wage einen vorsichtigen Blick in die braunen Augen, die ich so sehr vermisst habe und in denen ich in ein paar Minuten tiefen Schmerz und wahrscheinlich noch größere Enttäuschung sehen werde. Jetzt schauen sie mich noch neugierig an, ja sogar liebevoll, etwas, das ich seit der Fehlgeburt so sehr in ihnen vermisst habe. Mein Blick fällt auf Marinas Lippen und wie gerne würde ich meine Hand in ihr Gesicht legen, ihre Wange streicheln und meine Finger auf diese geschmeidigen Lippen legen...

Ich stolpere einen Schritt nach hinten. Es braucht unbedingt Abstand zwischen Marina und mir. Ich darf die Zärtlichkeit und Fürsorge, die sie mir schenken will nicht an mich heranlassen. Unter keinen Umständen darf ich schwach werden, sonst schaffe ich es nicht mehr ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

„Ich muss mit dir reden, Marina." Meine Stimme ist zittrig, weil ich genau weiß, dass ich meiner Frau gleich den Boden unter den Füßen wegziehen werde. Ihr scheint es so viel besser zu gehen, aber ich kann jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ich kann nur darauf hoffen, dass wir eines Tages wieder zueinander finden werden, wenn ich ihr jetzt die Wahrheit sage. Eine Lüge wäre falsch und sie würde irgendwann an die Oberfläche dringen und alles nur noch viel schlimmer machen.

„Es gibt so vieles über das wir reden sollten", antwortet sie mir. Sie ist etwas unsicher geworden, seit ich vor ihr zurückgewichen bin. Ich kann es ihr nicht verübeln. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich noch immer darunter leide, dass sie mich in ihrem Schmerz ausgegrenzt hat. Und ja, dass hat sie auch, aber es ist nicht die Sache, die ich jetzt ansprechen muss.

„Ich habe dich betrogen, Marina." Ich kann die Worte hören, die mir selbst über die Lippen kommen und verzweifelt kralle ich die Finger meiner rechten Hand in meine Haare, um mich irgendwie selbst zu beruhigen. Nur zu blöd, dass das nicht zu funktionieren scheint. Auf der einen Seite fühlt es sich verdammt erleichternd an, dass ich meiner Frau die Wahrheit gesagt habe, auf der anderen Seite bereitet es mir unfassbare Schmerzen, vor allem als ich in Marinas Augen schaue. Gerade eben spiegelte sich darin noch so viel Hoffnung und Besorgnis und jetzt ist da wieder nur dieses tiefe, schwarze Nichts. Ich wusste, dass sie so reagieren wird, warum versuche ich dann trotzdem verzweifelt sie zu berühren und sie zu trösten? Verständlicherweise stößt sie mich von sich und entfernt sich ein paar Schritte von mir, damit ich sie nicht mehr anfassen kann.

„Ich kann deine Nähe gerade nicht ertragen", wispert sie. "Bitte geh, David. Ich brauche... Ich weiß es doch auch nicht. Bitte geh einfach, David." In den Augen meiner Frau stehen unendlich viele Tränen, die ihr in Perfektion über die Wangen kullern.

Ich weiß, dass ich den Rückzug machen muss. Vielleicht hatte ich die leise Hoffnung, dass es anders kommt, aber wem will ich eigentlich etwas vormachen?

Zerbrochen ist alles, das mir in den Sinn kommt, als ich in Richtung Haustür stolpere und Marina mit ihrem tiefen Schmerz alleine zurücklasse. Ein Tränenschleier mindert mir die Sicht und beinahe gerate ich ins Stolpern.

Ich wollte doch nur mein Herz heilen, aber stattdessen habe ich es nur noch mehr gebrochen und ganz nebenbei meine kleine Familie geopfert.

Wie kann man nur so bescheuert sein?

In Your Arms (Band 1)Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu