19 - Ein falscher Vorhang

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Die einzigen Male, die Ioanne getrunken hatte, waren gelegentliche Momente während der Rebellion gewesen. Dann, wenn sie eine Stadt, einen Tempel oder einen Hof eingenommen und diverse Getränke gefunden hatten. Es hatte ihr nie wirklich geschmeckt, zumal es die Sinne vernebelte und Zauberei schier unmöglich machte. Hexen vertrugen keinen Alkohol. Im Grunde genommen verhielten sie sich dann genauso wie all die anderen Menschen auch, doch Magie, konnten sie dann nicht mehr richtig wirken. Es verwirrte den Geist und ließ die Kraft wie abgehackt durch ihre Finger fließen. In einer Zeit, in der sie ständig mit dem nächsten Kampf hatten rechnen müssen, war es ihr als Schwachsinn erschienen, dieses Risiko freiwillig in Kauf zu nehmen. Nur um das Brennen zu spüren, das einem durch die Kehle glitt, wenn man davon trank.

Dennoch hatten einige unter ihrem Kommando es getan. Sie hatten getrunken und wenn auch nur für ein paar Stunden, hatten sie sich in eine berauschte, ohnmächtige Welt geflohen, in der sie nicht mehr daran dachten, was um sie herum geschah. Ein alkoholisierter trügerisch falscher Vorhang. Vorrübergehend aber scheinbar wirkungsvoll genug, dass viele sich immer wieder hinein geworfen hatten.

Es war ihr wieder eingefallen, als sie das Schild in der Straße leise quietschend schwanken sah. Es schien von oben herab zu winken. Gesucht hatte sie nicht danach, doch als sie es fand, da folgte sie ihm. Nervös und misstrauisch war sie eingetreten. Besonders voll schien es nicht gewesen zu sein, doch besonders interessiert beäugt, hatte sie auch keiner.

Flucht.

Sie war nach der letzten Schlacht geflohen. Sie war vor dem Fremden geflohen. Nun wollte sie vor sich selbst fliehen. Und da sie in diesem Fall nicht rennen konnte, lockte eine andere Möglichkeit. Es war kein gezielter Plan, nicht einmal eine direkte Überlegung. Eigentlich war es gar nichts und das, das sie zunächst an sich gezogen hatte, war ein leerer Hocker vorne an der Bar gewesen. Einfach ein Platz, um sich nieder zu setzen. Dort hätte sie dann womöglich gar nichts weiter getan. Vielleicht wäre sie kurz darauf auch direkt wieder aufgestanden und doch gegangen, doch jemand neben ihr drehte sich zu ihr herum und sprach sie an. Er kommentierte ihre Miene und die Schatten unter ihren Augen in einer Art die auf seltsame Weise wie amüsierte Sorge klang. Nur um ihr kurz darauf in selbstverständlicher Großzügigkeit, ein kleines Glas mit farbloser Flüssigkeit vor die Nase zu setzen.

„Trink Mädchen!", hatte er sie aufgefordert. „Das hat noch alle Sorgen vertrieben."

Ioanne bezweifelte, dass seine Weisheit auf Tatsachen beruhte, doch ihre Finger legten sich um das Glas und sie schluckte in einem Zug. Es brannte und kratzte in ihrer Kehle. Ein unangenehmes, widerliches Gefühl, dass ihr in die Nase und über die Stirn bis in den Kopf zog. Feine, schmale Stachel schienen unter ihre Haut zu fahren und ihr Tränen in die Augen zu treiben.

Ihre neue Bekanntschaft lachte, während sie hustend nach Luft schnappte, und schob ihr erneut ein Glas entgegen. Auch das trank sie. Vielleicht auch um den Schmerz zu spüren. Das Stechen und Kratzen. Und Vielleicht auch, da sich der Nebel verdichtete und ihren Kopf wieder in weiche Watte hüllte.

Sie wollte vergessen, fliehen, verschwinden, aufhören zu denken. Und wenn auch nur für einen Moment. Wenn sie schon nicht hatte sterben können und sich dem verdienten Schicksal entgegen aus den Fluten gezogen hatte, wollte sie nun zumindest ihren Verstand ertränken.

Wie viel sie danach getrunken hatte, wusste sie nicht. Womöglich war auch gar keine all zu große Menge nötig gewesen, denn sie kannte es nicht. Ihr Körper war nicht daran gewohnt und sog es auf, ohne zu wissen, wie damit umzugehen war.

Wirklich erkennbar brüllten ihre Gedanken erst da wieder in ihrem Kopf, als sie das Gespräch der drei Männer hörte, die ein Stück weit entfernt von ihr um einen Tisch herum saßen.

„Ich sags dir, das Miststück hat sich aufgeführt, als wäre sie die große Heldin selbst, nur weil sie einen Rang höher über mir steht und zu den verdammten Hexen der Einheit gehört. Viel hätte nicht gefehlt und sie hätte sich direkt mit Ioanne verglichen."

Ihr Name schien durch den Raum zu wabern wie eine giftige, schwere Wolke. Er hätte es auch noch am anderen Ende des Raumes in einer Ecke flüstern können, und es wäre doch bis zu ihr geglitten. Wäre in ihr Ohr gekrochen und hätte sich in ihren Kopf gebohrt.

„Halten sich nicht alle Hexenweiber für die nächste Befreierin?"

„Die Hexer genauso. Fuchteln ein bisschen mit ihren Händen durch die Luft und denken die Götter hätten sie ausgewählt wie sie es mit Ioanne getan haben."

„Sollen sie doch weiter den Unsinn plappern. Vielleicht kehrt sie zurück und stampft sie in den Erdboden, genauso wie die alten Tyrannen während der Säuberung."

Ioanne – die echte – schlug mit den Händen zwischen ihnen auf den Tisch. Teilweise im Zorn. Teilweise um sich zu halten, nachdem das so plötzliche erheben aus sitzender Position dafür gesorgt hatte, dass die Welt sich vor ihren Augen wild drehte.

„Haltet die Klappe!", zischte sie mir wirrem Blick.

Sie reagierten auf ihre Worte mit eigenen. Geräusche wurden zu einem durcheinander an Wirbeln und Rauschen. Ein Streit erhob sich und Beleidigungen schossen durch die Luft wie surrende Pfeile auf einem Schlachtfeld. Ioanne hörte Mauern krachend stürzen. Sie hörte wie Klingen durch Fleisch schnitten und sie sah Geister der Erinnerung wie verwehte Rauchschwaden an ihr vorbei huschen. Jemand packte sie an der Schulter. Magie zuckte entlang ihrer Fingerspitzen und ballte sich in der Tischplatte. Dann war der Knall zu hören. Unkontrolliert rasselte der Zauber durch das Holz. Explodierte in einer Druckwelle durch die Luft. Die Männer wurden fortgeschleudert. Die Möbel und Ioanne aber ebenso. Mit dem Rücken knallte sie gegen eine Wand und rang keuchend um Atem. Es klingelte in ihren Ohren und klapperte in ihrem Kopf.

Irgendwie erschien es ihr sinnvoll auf den Tresen zu steigen, sobald sie sich wieder auf die Beine geschoben hatte. Von oben sah sie herab auf Gesichter voll Irritation, Wut oder Furcht. Doch während sie sprach, bemerkte sie eine ganz spezielle Gestalt, die sich zwischen den Menschen vorbei drückte. Sie verzog ihre Miene zu einer grimmigen Grimasse. Einen Schritt trat sie herausfordernd auf ihn zu. Der Tresen war schneller zu Ende als sie erwartet hatte und ganz plötzlich flatterte sie durch die Luft, dem Boden entgegen.

Die Legenden alter LügenWhere stories live. Discover now