22 ~ Trümmer

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»Oh Gott, Livy! Was ist passiert?«

Mit hängenden Schultern lehne ich in meiner Haustür, an der Rose gerade Sturm geklingelt hat. Sie lässt ihren Blick aus weit aufgerissenen, braunen Augen an mir hinabgleiten.

»Wieso? Wie kommst du darauf, dass etwas passiert ist?«, quetsche ich durch meine zusammengepressten Lippen.

»Jix hat mich angerufen. Er hat gesagt, ich soll dringend nach dir sehen, weil es dir sehr schlecht gehen würde. Und wenn ich dich so ansehe, dann glaube ich, dass er recht hat.«

Verdammt, wieso kennt sie mich so gut?

»Du hast dir also tatsächlich diesen Gitarristen aufgerissen. Wie war denn deine Nacht?«, frage ich und hasse es, dass meine Stimme so brüchig klingt. Sie fixiert mich aus schmalen Augen und durchschaut natürlich sofort meinen kläglichen Versuch, das Thema von mir weg und auf sie zu lenken.

»Ging so. Und bei dir?«

»Tja, die Nacht war schön.«

Was untertrieben ist. Traumhaft würde besser passen. Unvergesslich. Unvergleichlich. Märchenhaft. Fantastisch.

Und einmalig. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Aber jetzt sind da nur noch Trümmer. Mein Leben ist ein riesiger Trümmerhaufen, Rose.« Meine Augen werden heiß und mir ist klar, dass ich gleich in Tränen ausbrechen werde. Wie verrückt zwinkere ich, um das nicht zuzulassen. Der besorgte Blick meiner Freundin schafft es beinahe, meine Betäubung zu durchbrechen, und das kann ich mir noch nicht leisten.

Plötzlich wird mir ganz kalt. Fröstelnd schlinge ich die Arme um meinen Oberkörper. Rose betritt den Flur, zieht mich wortlos an sich, und in diesem Moment ist es vorbei. Ich kann meine Tränen nicht mehr aufhalten. Sie fließen und wollen einfach nicht mehr versiegen. Sinnlos wische ich in meinem Gesicht herum, gebe schließlich auf und schlage meine beiden Hände davor.

»Lass alles raus, Livy. Wein dich aus. Und wenn du willst, dann erzählst du mir danach alles.«

Genau das tue ich auch. Nachdem ich mich beruhigt habe, setzen wir uns an den Esstisch und unter Schluchzen und Schniefen sprudelt alles haltlos aus mir heraus, was nach dem Konzert passiert ist.

Die Gespräche mit Trace, die Nacht in seinen Armen, unser Frühstück, sein Angebot und meine überschwängliche Entscheidung, den Job bei der Band anzunehmen und mein Haus zu verkaufen.

Doch ganz am Ende blieb von meinem schönen Traum nur die bittere Erkenntnis, dass er mich von Anfang an getäuscht und belogen hat. Genau wie vor zehn Jahren. Und wieder bin ich naiv darauf hereingefallen wie ein leichtgläubiger, hormongesteuerter Teenager.

Rose zieht ihre dunkelbraunen Brauen so eng zusammen, dass sie beinahe eine durchgehende Linie bilden. »Du willst mir sagen, Trace ist eigentlich gar nicht Trace, sondern Deacon. Der Deacon, mit dem du als Siebzehnjährige für ein paar Monate zusammen warst? Und der dich dann, nachdem ihr in der Abschlussballnacht miteinander geschlafen habt, ohne ein Wort einfach verlassen hat. Also Trace, der Rockstar, ist dieser miese Typ?«

»Genau der.«

Die Skepsis in ihrem Blick ist unübersehbar. »Und du bist dir sicher? Du hast nämlich mit keinem Ton erwähnt, dass Trace diesem Deacon irgendwie ähnlich sieht.«

»Ich hab das nicht gemerkt, Rose. Es ist zehn Jahre her, und ich habe damals alle Bilder von ihm verbrannt. Ich hab versucht, ihn aus meinem Gedächtnis zu löschen. Jetzt, wo ich es weiß, fallen mir schon ein paar Ähnlichkeiten auf, die Größe und die Gesichtsform zum Beispiel. Und da war von Anfang an dieses vertraute Gefühl, das ich ihm gegenüber hatte. Seine Stimme kam mir auch irgendwie bekannt vor, nur habe ich Deacons Stimme nie als so faszinierend empfunden, wie die von Trace. Deacon hatte keine Tattoos, keine Piercings, war eher schlaksig als muskulös, und außerdem hatte er dunkelblonde Haare. Die Haare von Trace sind rabenschwarz und seine Haut ist viel heller. Aber vor allem hatte Deacon blaue Augen. Keine Ahnung, wie Trace zu diesen dunkelbraunen Augen gekommen ist.«

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