Verlangen

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Diese Zeit, dieser Tag, diese Person und dieser Tod.

Page saß neben einem Mann im Wartezimmer der Arztpraxis, die Stühle neben ihnen waren leer. Ihre schwarzen Haare hingen ihr ins Gesicht und ihre blauen Augen schimmerten im schwachen Licht der flackernden Deckenlampe. Ungeduldig wippte der frisch polierte Lederschuh des Mannes auf und ab.
Pages Ausdrucksloses Gesicht war zu der Uhr gerichtet, welch bedrohlich an der gegenüber liegenden Wand hing. Gleich war es Punkt 14:00 Uhr. „Haben sie eine Familie?" fragte Page den jungen Mann. „Ehm, kennen wir uns?" „Nein, aber es wäre besser wenn sie mich kennen würden. Ebenso würde ich ihnen vorschlagen bei ihrer Familie anzurufen und sich bei ihnen zu bedanken." Ihr Gesichtsausdruck blieb steif und unverändert. Verwirrt ignorierte der Mann das Mädchen, doch man sah ihm die Ungewissheit an.

15:00Uhr.

Keine Sekunde zu spät stand Page auf, zupfte ihren langen, schwarzen Blazer zurecht und verließ den Raum, ein Stilles „Auf wieder sehen" murmelte sie ihm entgegen und zog die quietschende Tür zu. Sie schritt die lange Treppe hinab und trat nach draußen. Der kühle Wind blies ihr ins Gesicht. Die Bäume wehten und der Regen prasselte auf den geteerten Boden. Mehrere Pfützen hatten sich am Wegesrand gebildet. Das kühle Nass lief ihr durch das Haar, ihre rosa, roten Lippen leuchteten und der graue Himmel schien immer dunkler zu werden. Der perfekte Augenblick für einen Mord.

Ein Mann in schwarzen Anzug näherte sich Page. Er lief unauffällig an ihr vorbei, dabei flüsterte er ihr in Ohr „Ist er noch da, wird es klappen?" Page nickte und nuschelte „15:09 Uhr ist der perfekte Augenblick Charls, nicht zu früh und nicht zu spät". Charls nickte ebenfalls und trat in die Arztpraxis ein. Page sah sich um, sie wusste was er vorhatte.
Die Spitze des Kirchturms ragte hinter den unzähligen Wolken empor. Die Zeit, 15:07 Uhr.
Mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht schlich sie zum Eingang der Praxis und lauschte. Schon vom weiten waren die wehleidigen Schreie des Mannes zu hören. Ein erneutes dumpfes Peng. Stille.
Mit einem geheimnisvollen leuchtenden in den Augen, genoss sie die hilflosen Schreie des Mannes bis sie verstummten.
Krähen kreischten durch den  schwarzen Himmel, kampfbegeistert stürzten sie sich auf ein Stück Brot was am Straßenrand lag.
Die Tür sprang auf und Charls kam raus gestürmt. An seinen schwarzen Handschuhen klebte Blut was langsam an seine Händen hinunter tropfte. Eine Falte malte sich in seinem Gesicht. „Er ist tot" schrie er ihr entgegen. „Ich weiß, ihm wurde in dem Bauch geschossen und der zweite Schuss durchtrennte seine Kehle." erklärte sie und musste leicht Grinsen. „Ich bin immer wieder über deine präzise Fähigkeit überrascht" Er musste etwas schmunzeln. „Ich weiß"

Charls war ein 16 Jähriger Junge in Pages alter, er hatte dunkelbraune gelockte Haare und hatte ebenso wie sie eine dunkle und tragische Vergangenheit. Page und er kennen sich schon seit klein auf und waren wie Brüder.

„Gehen wir" und gemeinsam schritten sie in Richtung Hauptstraße, wo bereits eine große schwarze Limousinen auf die beiden wartete. Charls öffnete ihr die Autotür und sie stieg ein. Die Tür wurde zugleich zu gezogen und das Auto brauset davon.
Die Straßen Londons waren leer und der Regen wurde kälter. Niemand ahnte was geschehen war. Schon von weiten hörte man das heulen der Sirenen. Mehrere Polizeiwagen preschten an ihnen vorbei, doch Charls und Page bleiben ruhig. Sie kannten das ganze schon, es war immer das gleiche, die Polizei kam, untersuchte den Tatort nach Hinweisen, vergebungslos. Inspiziert die Leiche und muss wohl diesen Todesfall ebenso als ungelöst eintragen. Die Fahrt verging schnell, letztendlich hielt der Wagen vor einer großen weißen Villa, abseits von der Stadt mitten am Waldrand. Page mochte ihr zu Hause. Nachdem sie von zu Hause abgehauen war, wohnte sie bei ihrem besten Freund. Das Gelände des Anwesens bezog Tausende von Quadratmetern, es hatte nicht nur ein eigenen Garten, sondern auch haufenweise heruntergekommene Pavillons. Die weiße Farbe blätterte bei den meisten bereits ab oder färbte sich modrig braun.

London, in der Ville de la rose, genau hier wohnten sie, in einem riesigem, heruntergekommenen Haus.

Die quietschende Eingangstür wurde von zwei jungen Frauen, in weißen Anzügen geöffnet. „Guten Abend, Miss Page und Herr Rader" sie machten einen kleinen Knicks vor ihrem Herrn und legten ihm Mantel sowie Schirm ab. „Miss Page, darf ich ihren was anbieten" fragte die junge Frau, doch Page schüttelte nur den Kopf. „Jetzt sei doch nicht so wortkarg!" genervt lief Charls in das Esszimmer. Die Küchenmöbel waren grün gefärbt und standen am Rande des Raumes. Er trat an das ovale, Große Fenster und ließ seine Blicke über den Wald schweifen. „Du tust es schon wieder" wieß Page ihn darauf hin. „Was?" „Du denkst, dass du irgendwann ertappt wirst, für deine schrecklichen Taten" „Vielleicht tue ich das" seine Augen weiteren sich. „Warum hörst du dann nicht auf?" „Ich kann nicht" „Jeder kann" „Ich aber nicht!" fauchte er ihr entgegen. „Ich kann nicht aufhören, das verlangen ist zu groß, ich kann nicht!" Erschrocken wich sie zurück. Vorsichtig wand sie sich ab, sie war erschrocken doch gleichzeitig auch fasziniert. „Page?" Doch sie reagierte nicht. „Page, es tut mir leid. Mein Ton war unverschämt, bitte entschuldige" Sie blieb mitten im Raum stehen und hielt inne. „Ich weiß" Stille. Page Augen funkelten, schließlich löste sie sich aus ihrer Starre und schlürfte in Richtung Treppenhaus. Mit quälend langsamen Schritten zog sie sich am Geländer empor. Der Kronleuchter der über ihr hing, schimmerte leicht. Sie taumelte in ihr Zimmer und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ihr Kopf schmerzte, ihre Gedanken spielten verrückt, zu viele Informationen. Sie krümmte sich zusammen, wehleidig hielt sie sich die Ohren zu, sie stöhnte. Schreie. Sie schrie in ihr Kissen, ihre Hände an den Kopf gepresst.

Eine Hand zog sie zurück und legte ihren Kopf behutsam in ihren Arm. Schreie. Die Welt um sie herum verblasste langsam, bis sie ganz schwarz wurde. Stille. Nichts weiter als Stille. Herzklopfen. Schneller und schneller. Ihr Herz raste. Sie schreckte hoch. Ihr Gesicht war blass, ihre Hände ungewöhnlich kalt, wiederum glühten ihre Füße. Ihr Atem war schwer. Verzweifelt versuchte sie nach Luft zu schnappen, im nächsten Moment wurde ihr wieder Schwindelig. Die Tür ihres Zimmers stand weit offen.

Das VerlangenWhere stories live. Discover now