Heute werde ich sterben

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Heute werde ich sterben. Heute ist mein letzter Tag auf Erden. Heute ist mein Glückstag.

14 Jahre alt. Instinktiv kam mir mein Sterbe-Pakt, mein Versprechen an mich selbst, die grausame Welt zu verlassen. Ob sich meine Gefühle verändert hatten? Die Ereignisse der Vergangenheit prägten meine Gefühlswelt, meine zukünftigen Handlungen und meine Gedanken. Ich hatte mein Umfeld verändert und trotz dessen fühlte ich mich depressiv und leer. Die Traurigkeit, sowie das selbstverletzende Verhalten blieb. Ich wusste es. Die Traurigkeit blieb mir treu. Sie verschlingt mich und ich war nicht sicher, ob das jemals aufhören würde. Meiner Oma gegenüber hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen - ja, ein schlechtes Gewissen zu haben war mein Ding. Wollte ich nicht, dass es mir besser geht?
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Kurzer Rückblick: Ich bekam vor zwei Wochen einen Therapeuten, Herr K. Ich ging hin, ohne mich zu beschweren, die Mitarbeit war mangelhaft. Eventuell eine mangelhaft +. Wieso sollte ich zur Therapie, wenn mein Entschluss feststand? Ich konnte nicht gerettet werden. Nicht von mir selbst, nicht von jemand anderen.
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Nach der Therapie fuhr ich nach Hause. Durch die Gespräche in der Therapie, die Themen die von Herrn K angesprochen wurden, ging es mir zu Hause schlechter. Vermutlich weil ich die Erinnerungen nicht mehr ignorieren konnte, weil ich mich an Dinge erinnerte, an die ich mich nie mehr erinnern wollte. Erinnerungen, die ich längst verdrängt hatte. Alleine in meinem Zimmer brachen die Gedanken ohne jegliche Vorwarnung ein. Diese kompensierte ich mit meinen Schnitten. Sie waren das Einzige, das half. Diesmal nicht. Wütend und verzweifelt darüber dass sie keine Abhilfe schafften, schnitt ich tiefer. Ich hatte den Drang nach mehr. Den Drang, alles zu beenden. Diese Nacht war der Moment der Wahrheit, der mich in meinem Denken nur bestätigte. Nichts hatte sich geändert. Der Selbsthass überkam mich und zwang mich in die Knie.
Impulsiv stand ich auf, nahm die restlichen Schmerztabletten die in meinem kleinen Medizinschrank lagen, und legte sie in einen leeren Schuhkarton- der Schuhkarton meiner schlimmsten Gedanken. Selbsttötung ist eine Sünde, unmoralisch und egoistisch - mir egal.
Ich lief ins Bad - zu meinem Vorteil schliefen alle- und suchte mir weitere Tabletten, eine Reihe an buntem Durcheinander: Schlaftabletten, Schmerztabletten, Bluthochdruck-Medikamente und etliche andere Pillen, die ich nicht zuordnen konnte. Diese legte ich alle in meinen Gedanken-Karton. Aus Papier schrieb ich Abschiedsbriefe. Sollte ich überhaupt welche schreiben? Würde mich überhaupt jemand vermissen, wenn ich weg war? Die fertigen Briefe an: Oma, meine Klassleitung und meine Schwester legte ich dazu.

Ich beschloss endgültig: Morgen werde ich sterben.
Mein Plan ließ mich mit einem Lächeln einschlafen.
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Ich wusste, dass es meine geliebte Oma verletzten würde, mir selbst wehzutun. Ja, sie wusste von meinen Schnitten. Ja, sie reagierte erst sehr geschockt. Ja, sie verurteilte mich nicht dafür. Sie wusste, es war ein Symptom meiner Erkrankung: Verdacht auf Depressionen und Borderline. Ich war dankbar, dass sie mich nicht anschrie, dass sie mich trotzdem noch liebte. Wenn ich in der Lage war, ihr davon zu erzählen, verband sie meine Wunden und bot mir ein Gespräch an. Oft wollte, nein, konnte ich nicht darüber reden. Zu groß war der Hass auf mich selbst.
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Heute werde ich sterben. Heute ist mein letzter Tag auf Erden. Heute ist mein Glückstag... Dass ich eine Komponente nicht bedacht hatte, zeigte sich im Laufe des Tages.
Dass mein Plan schief gehen könnte... daran dachte ich nicht.
Die Schulstunden verflogen. Erste Stunde Mathe, zweite Stunde Deutsch, dritte und vierte Stunde Biologie, fünfte und sechste Stunde Sport. 13:00 Uhr- Schulschluss. Endlich. Bevor ich zum Bus lief, schenkte ich meiner einzigen Freundin und Mitschülerin Anita meine Halskette und meine geliebte Armbanduhr, denn ich brauchte sie nicht mehr. Skeptisch fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Anita kannte meine Probleme, nicht detailliert genug, jedoch wusste sie, dass ich psychisch meine Schwierigkeiten hatte. Ich entgegnete glücklich: „ Ja. Bald wird alles in Ordnung kommen." Wenn ich tot bin. Diesen Gedanken sprach ich jedoch nicht aus, sondern behielt ihn für mich. Ob Anita etwas ahnte? Ich denke nicht.

Zuhause angekommen stelle ich meine Schultasche ab, begrüße meine Oma und und laufe bestimmt in mein Zimmer. Abschließen kann ich nicht, denn der Schlüssel ist vor einigen Jahren verloren gegangen. Vorsichtig nehme ich den Karton unter dem Bett hervor und lege ihn auf mein Bett. Meine Gedanken kreisen um meinen Selbstmord-Plan: Ich nehme die Tabletten aus meinen Karton und drücke jede einzelne heraus. Erst eine, dann zwei... bis ich alle in meiner Hand halte. Ein letzter Moment, ein letzter Zweifel? Nein, ich bin mir sicher - festentschlossen. Die Welt braucht mich nicht. Sterben muss sowieso irgendwann jeder. Ich...
Ein Klopfen an meiner Zimmertüre riss mich aus meinen Gedanken, aus meinen Mord Gedanken, meiner bildlichen wunderschönen Vorstellung. Ich wollte sie unbedingt zu Ende denken.
Erschrocken ließ ich von meinem Gedanken-Karton ab und schob ihn wieder unter mein Bett und rief leise: „Herein?"
Meine Oma kam ins Zimmer und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich habe genug, von diesen Fragen...Ich entgegnete mit einem müden Lächeln: „ Ja, alles Okay." Sie blickte mir tief in die Augen und setzte sich zu mir aufs Bett. „Herr K hat vorhin angerufen und macht sich ein wenig Sorgen um dich."
Scheiße. Habe ich ihm unterbewusst doch zu viel verraten? War die letzte WhatsApp- Nachricht etwas zu detailliert? -Versteckte Details? Oder war es meine Mimik, Gestik, Körperhaltung?

Scheiße.
Scheiße.
Scheiße.

Das war jedoch nicht die Komponente, mit der ich nicht gerechnet hatte. Sie war nicht der Grund, weshalb alles anders kam...
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Hinweis: Das Bild ist nicht meins. Es wurde aus Pinterest entnommen.

Selbstverletzt.Onde histórias criam vida. Descubra agora